Mit Waffen zur Selbstfindung? Die EU hat Mühe mit ihrer Verteidigungspolitik

Brüssel (taz) – Auf dem Weg zur eigenständigen europäischen Verteidigung geht die EU heute in die nächste Etappe. Im Brüsseler Ratsgebäude nehmen Experten ihre Arbeit auf, die den europäischen Militärstab vorbereiten sollen. Sie werden von den jeweiligen nationalen Regierungen entsandt. Ende des Jahres, auf dem EU-Gipfel von Nizza, soll ein eigenständiger Stab entstehen, der die Krisenreaktionskräfte (KRK) der Mitgliedsländer koordinieren soll.

Diese KRK gibt es dann aber noch gar nicht, sondern erst Ende 2002. Bis Ende dieses Jahres soll sich jedes EU-Land festlegen, wie viele Truppen es im Ernstfall schicken könnte. Auf dem ersten informellen Verteidigungsministertreffen am Montag in Sintra wurde bereits deutlich, dass die Vorstellungen, welche nationalen Anstrengungen dafür nötig sind, auseinandergehen. Während der französische Außenminister verlangte, dass jedes Land 0,7 Prozent seines Bruttoinlandprodukts in Investitionen für die Verteidigung stecken soll, wollte Rudolf Scharping sich nicht auf Summen festlegen lassen. Deutschland gibt derzeit nur 0,35 Prozent seines BIP für Rüstung aus.

Unklar ist bislang auch, wie weit die Nato in die neuen Planungsgremien eingebunden sein soll. Javier Solana, Generalsekretär des Rates und ab heute zumindest formal Chef des neuen sicherheitspolitischen Komitees und des Militärausschusses, hat angeregt, dass Nato-Vertreter an den Sitzungen teilnehmen sollen.

Mehr als Gemeinplätze werden sie mit den EU-Militärs nicht austauschen – zumindest solange die Sitzungen im Justus-Lipsius-Bau stattfinden, in dem das Ratssekretariat seinen Sitz hat. Denn der schlechte sicherheitstechnische Standard des Gebäudes ist in Nato-Kreisen ein offenes Geheimnis. „Löcherig wie ein Schweizer Käse“ sei der Marmorpalast, der Kritiker an Albert Speers Ästhetik erinnert. Weder Telefone noch Dolmetscherkabinen seien abhörsicher, die Eingangskontrollen ein Witz.

Wie leicht der Lipsius-Bau abgehört werden kann, wissen die USA am besten. Nur ein paar hundert Meter entfernt, im Europäischen Parlament, will ein Untersuchungsausschuss Licht in die so genannte Echelon-Affäre bringen. Es gibt Belege dafür, dass US-Geheimdienste die innereuropäische Kommunikation abhören.

Die heikle Situation zwischen Nato und EU zeigt sich nicht nur am Beispiel Echelon. Die USA äußern sich widersprüchlich, was sie eigentlich von den Europäern erwarten. Während sie einerseits bei jeder Krise mehr eigenständiges Engagement der EU einfordern, kommentieren sie andererseits die konkreten Pläne misstrauisch. „Wie Eltern, die ihr Kind heranwachsen sehen und sich freuen, dass es selbstständig wird. Andererseits fürchten sie, es könnte auf die schiefe Bahn geraten“, kommentiert ein Brüsseler Diplomat.

Auch untereinander haben die Europäer noch längst nicht ausdiskutiert, wie es mit ihrer Verteidigungsidentität weitergehen soll. Beschränkt man sich auf den Bereich Krisenintervention, ist die Liste der offenen Fragen noch vergleichsweise übersichtlich. Kommt aber die Landesverteidigung ins Spiel, wird die Sache kompliziert. Vier EU-Staaten – Österreich, Schweden, Irland und Finnland – gehören der EU an, ohne Nato-Mitglieder zu sein. Die Nicht-EU-Mitglieder Türkei, Norwegen und Island sind demgegenüber assoziierte Mitglieder der Westeuropäischen Verteidigungsunion (WEU), und die Nato-Neumitglieder Ungarn, Polen und Tschechien haben WEU-Partner-Status. Wie wird mit diesen Ländern verfahren, wenn die WEU, wie geplant, in der neuen EU-Verteidigungsstruktur aufgeht? Wie soll der künftige bündnispolitische Status von Estland aussehen, das auf der EU-Warteliste steht und auch Interesse an einer Nato-Mitgliedschaft angemeldet hat? So scheint eine Übergangsfrist von zehn Monaten zu kurz. EU-Reform und Militärbündnis – Jacques Chirac könnte sich an dem Paket, das er am Ende der französischen EU-Präsidentschaft in Nizza schnüren möchte, überheben. Daniela Weingärtner