Ankunft in der Talkshow-Gesellschaft

Auf ihren Regionalkonferenzen geriert sich die CDU neuerdings auffallend basisdemokratisch. Wie ernst dies gemeint ist, wird sich bei der Chefpersonalie zeigen. Fest steht: Der neue Stil nutzt Merkel ■ Aus Recklinghausen Patrik Schwarz

38 Jahre, ordentlicher Haarschnitt, hellblau kariertes Hemd, die Brille ausgesucht unauffällig. Nichts deutet darauf hin, dass der CDU-Funktionär Winfried Köster aus Bergheim gleich mit Fäkalausdrücken um sich werfen wird. „Meine sehr geehrten Damen und Herren.“ Der Stadtverbandsvorsitzende beginnt seinen Redebeitrag im gepflegten „Tagesschau“-Tonfall. 10 Jahre habe er für Leute wie Kohl und Kanther Wahlkampf gemacht, bei 20 Prozent lag die Kohl-Partei in Bergheim, schließlich waren es 56 Prozent. Dann brüllt Winfried Köster. „Und dann kommt so ein Arschloch und baut so eine Scheisse!“

Gerade die CDUler in NRW mögen es gerne anständig

Vor dem Recklinghauser Festspielhaus, in dem sich 700 bis 800 CDU-Funktionäre der unteren Ebene zur Regionalkonferenz NRW versammelt haben, steht ein Schild. „Bürger, haltet Eure Grünanlagen sauber!“, heißt es darauf, und gerade die Christdemokraten an Rhein und Ruhr mögen es gerne anständig. Einen Ehrenvorsitzenden, und sei es einen ehemaligen, Arschloch zu nennen, galt bis vor kurzem als unerhört. Jetzt bekommt Köster Beifall. Auf einer Veranstaltung wie dieser müsse man auch mal „Gefühle rauslassen“ können, ruft er in den Saal, „und das ist vielleicht heute Abend noch zu wenig geschehen“.

Im Gegenteil. Auffallend viel ist in Recklinghausen von Gefühlen die Rede, außerdem von Ideen wie Einfühlsamkeit und Offenheit, die nicht gerade zum Standardrepertoire einer konservativen Funktionärsbegegnung gehören. „Hineinhören“ wolle man in die Partei, sagt Landesparteichef Jürgen Rüttgers, als sei er der Fernsehpfarrer Jürgen Fliege, „Diskussionen aushalten“ statt Positionen vorgeben. Die CDU schmückt sich neuerdings mit Begriffen, die früher als Softie-Vokabular verhöhnt worden wären.

Erschüttert von Machtverlust und Spendenaffäre haben sich die Konservativen auf das Wagnis eingelassen, miteinander zu reden. Auf acht Regionalkonferenzen treffen sich Parteispitze und Basis. Nach Hamburg und Wolfenbüttel in Niedersachsen ist das Treffen vom Montagabend das dritte. Die Landesvorsitzende der Schülerunion jubelt, die Regionalkonferenz zeige, „wie basisdemokratisch die CDU ist“.

Haben etwa die linken Ideale von mehr Partizipation und Pluralismus nach zwanzig Jahren auch die Konservativen erreicht? Ein Blick in den Saal in Recklinghausen zeigt, dass die Funktionärsriege der CDU bunter geworden ist. Die älteren Herren tragen Bundesverdienstkreuz, die jüngeren Ohrring. Auch mehr Frauen sind dabei. Doch die CDU wird nicht grüner. Die neue emotionale Kuscheligkeit bei der Regionalkonferenz hat ihren Ursprung nicht in den Psychogruppen der 70er-, sondern in den Talkshows der 90er-Jahre. An der Macht erstarrt, hat die CDU eine Entwicklung versäumt, die quer zu ideologischen Trennlinien verläuft: In den täglichen Offenbarungssendungen des Fernsehens darf jeder mitreden – auch wenn offen bleibt, ob die eigene Meinungsäußerung Konsequenzen hat. Demselben Prinzip gehorchen die Regionalkonferenzen. Mit ihnen ist die CDU in der Talkshow-Gesellschaft angekommen.

Unüberhörbar ist in Recklinghausen allerdings auch, dass die Basis nach realer Macht ruft. Bisher lehnt die Parteispitze es ab, die Mitglieder über einen Nachfolger für Parteichef Schäuble abstimmen zu lassen. Über eine mögliche Urwahl soll der Bundesvorstand erst am 20. März, also nach Abschluss der Regionalkonferenzen, befinden.

Auffallend viel ist von Gefühlen die Rede

Auch CDU-Generalsekretärin Angela Merkel und ihr wahrscheinlicher Konkurrent Volker Rühe wollen erst dann ihre Kandidaturen erklären. Sollte dieser Waffenstillstand der beiden Kontrahenten von Merkel selbst eingefädelt worden sein, wäre es der vielleicht vielversprechendste und mit Sicherheit raffinierteste Schachzug ihrer Karriere. Denn die Zeit arbeitet für Merkel.

Die Regionalkonferenzen verschaffen ihr zwei womöglich entscheidende Vorteile. Weil die Treffen offiziell der Aufarbeitung der Spendenaffäre dienen und nicht der Suche nach einem Schäuble-Nachfolger, ist sie als Generalsekretärin vor Ort dabei – anders als Rühe. Außerdem begünstigt der neue Stil der CDU, wie er in Recklinghausen deutlich wird, die Frau aus dem Osten.

Viel ist dort von Gefühlen die Rede, und auffallend oft gelten sie ihr. Nicht Wahlkalkül oder Quotenproporz scheinen dabei die Redner zu bewegen. Sie huldigen Merkel aus innerer Anteilnahme, bringen ihr Geschichten von persönlichen Erlebnissen dar, als seien es Präsentkörbe. Der eine hat sie zufällig in einer Flughafen-Lounge getroffen, so nett und natürlich sei sie gewesen – zumal im Vergleich zum FDP-Minister Rexrodt, der neben ihr saß und sich wie ein eitler Geck aufführte.

Dann ist da etwa Herr Gabriel, der sich vorstellt mit dem Hinweis, er sei genauso alt wie Helmut Kohl, „aber im Unterschied zu ihm habe ich meine letzte Wahl gewonnen“. Neulich, zu einer Zeit, da er normalerweise schon im Bett liege, habe er Angela Merkel auf n-tv geguckt. „Sie haben mir imponiert, Sie haben einem alten Mann imponiert!“, flirtet er quer über 800 Köpfe hinweg. Natürlich sei Merkel für den Parteivorsitz geeignet. „Machen Sie das! Lassen Sie sich nicht verjagen!“ Der Beifall ist riesig.

Für die Gegner von der alten CDU bleibt da nur Gelächter. Herr Johanni zum Beispiel hält von den Jungen in der Partei gar nichts. Rüttgers und Schäuble hat er sich bereits vorgenommen. „Und jetzt Frau Merkel!“ Sein Finger schießt in Richtung Podium. Hochmut kommt vor dem Fall, schleudert er dem jungen Ding entgegen. „Sie sind Landesvorsitzende in Mecklenburg-Vorpommern.“ Pause. „Da ist noch viel zu tun!“ Im Saal wird gelacht und Herr Johanni noch wütender. Erst mal solle sie sich daheim beweisen. „Die Roten, die Kommunisten haben dort freie Hand!“

Im Saal scheint das niemanden zu kümmern.