Reise ins Unbekannte

Jazz, Vampire und die Kerker der Vernunft: Eine Metropolis-Reihe entwirft Surreale Welten im Film  ■ Von Tobias Nagl

Seit Bakunin, lautet ein vielzitiertes Diktum Walter Benjamins, habe es in Europa keinen radikalen Begriff von Freiheit mehr gegeben.

Tatsächlich jedoch ist das Zitat unvollständig. Knapp und apodiktisch fährt Benjamin nämlich in eigenwilliger Interpunktion fort: „Die Sürrealisten haben ihn.“ Denn die schließlich wollten nichts weniger als „die Kräfte des Rausches für die Revolution gewinnen.“ Die Entdeckung eines Sigmund Freud, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus sei, hatte, vor der Katastrophe des 20. Jahrhunderts, dem bürgerlichen Subjektivitäts- und Fortschrittsbegriff einen nahezu tödlichen Stoß versetzt. Und wo der kränkelnde Patient noch zappelte, traten die Surrealisten begeis-tert nach.

Dazu war jedes Mittel recht, denn schließlich konnte auch jeder ein Poet sein, ja, wenn es ihm oder ihr nur gelang, jenes Erzählkontinuum des Unbewussten anzuzapfen, dem die Traumdeutung eine erste literarische Form gegeben hatte. Drogen boten sich da genauso an wie Traumprotokolle, das Flanieren durch die elektrifizierten Erfahrungsräume der Stadt samt ihrer kleinen und großen chocs wie die mys-tisch erlebte sexuelle Ekstase. So sehr die „freiwillige Entregulierung der Sinne“, von der André Breton wortmächtig träumte, bisweilen auch nach dem Archaischen schielte, so sehr formulierte sie sich im seziermesserscharfen Vokabular des technischen Zeitalters.

Mit dessen Leitmedium, dem bewegten Bild, hatten die Surrealisten dennoch erstaunlicherweise relativ wenig am Hut, stellt man die wenigen, filmgeschichtlich tradierten Klassiker Bunuels, Man Rays oder René Clairs in ein zahlenmäßiges Verhältnis zur sonstigen Produktion der Gruppe. Dass auch ein anerkannter Großmaler wie René Ma-gritte mit Super-8 experimentierte, ist kaum bekannt: Voller Albernheiten sind seine kurzen Experimente; mit fast schon kindlichem Spieltrieb bedient er sich des neuen Mediums. Wenn auch er den Film für eine weitgehend unseriöse Angelegenheit hielt, waren andere Surrealisten begeisterte Kinogänger. Feuillades Serials, Méliès' Phantastik oder die Horrorfilme der 20er und 30er Jahre prägten in ihrer Trivialität die surrealistische Ästhetik genauso wie Chaplin oder das Jazz Age: André Breton forderte seine Anhänger sogar auf, so wahllos wie sein anarchistischer Revolverheld unter Missachtung der Anfangszeiten durch die Kinos zu streunern, um den Bilderstrom von den letzten rationalistischen Korsagen zu befreien. Sich in seinem sechsteiligen Programm auch dieser kulturgeschichtlichen Schnittstelle von Moderne und Populärkultur angenommen zu haben, macht denn auch eine der großen Überraschungen des parallel zur „Surreale Welten“-Ausstellung in der Kunsthalle von Thomas Tode, einem notorischen Kenner des Avantgarde-Films, kuratierten Metropolis-Programms aus.

„Jazz & Vampire“ lautet der exzentrische Titel einer Programmschiene. Und tatsächlich versammelt er genau das – und nicht einmal nur additiv. Jean Painlevés Kleinod Le Vampire präsentiert zum treibenden Jungle Style des frühen Duke Ellington den Beweis: Vampire, es gibt sie doch. Szenen aus Murnaus Nosferatu konstras-tiert dieses Meisterwerk surrealen Humors mit ins Lyrische ausrutschenden Konventionen des Lehrfilms, um dann seinen kleinen Blutsauger irgendwann dem verstörten Zuschauer zu präsentieren: ein kleine, in Südamerika lebende Fledermaus. Ernst Moermanns wunderschöner Monsieur Fantômas dagegen ist eine überdrehte Hommage an den französischen Meisterverbrecher, der mit den Agenten der Ordnung, Polizisten und die im surrealistischen Film überpräsenten katholischen Nonnen, Katz und Maus spielt. Was für eine Erfahrung die Großstadt für die Surrealisten bedeutet haben könnte, wird in Dudley Murphys Jazz-Film Black and Tan am vielleicht am deutlichsten. So melodramatisch der vergleichsweise würdevolle Plot um eine schwarze Tänzerin und den Komponisten Ellington auf sein tragisches Ende zusteuert, so faszinierend explodiert das taumelnde Musical-Finale im synkopisch beschleunigten Rausch der Bilder.

Ähnliche Freiheiten erlaubt sich Tode, wenn er René Clairs noch-dadaistische Bizarrerie Entr'acte mit Méliès' Wells- und Verne-Motive hybridisierendem Le Voyage dans la lune und Maya Derens erotischer Phantasie Meshes Of The Afternoon kombiniert. Natürlich gibt es auch ein Wiedersehen mit dem paradigmatischen Augenschnitt aus Un chien andalou. Indem die Metropolis-Reihe aber derartige Bürgerschockereien nur am Rande stattfinden lässt, bleibt sie dem surrealistischen Programm vielleicht am treuesten. Denn das wollte den Zuschauer zuallererst auf eine Reise ins Unbekannte zu schicken.

Portraits: 4. + 5., jeweils 17 Uhr Jazz & Vampire: 8. , 19 Uhr + 11. + 12., jeweils 17 Uhr Amour Fou & Raserei: 15., 19 Uhr + 18. + 19., jeweils 17 Uhr Träume des Unbewussten: 22. , 19 Uhr + 25. + 26.3., jeweils 17 Uhr Alpträume & Somnambule: 5.4., 19 Uhr + 8. + 9. , jeweils 17 Uhr Surrealistisches Objekt: 12. , 19 Uhr + 15. + 16. , jeweils 17 Uhr, alle Metropolis