Irgendwann schlägt die Peripherie zurück

In Pjotr Luziks Regiedebüt „Okraina“ gehen russische Bauern den neuen Herren an den Kragen  ■ Von Tim Gallwitz

Die Erde liegt brach und ist aufgesprungen vor Trockenheit. Die Bauern im „Randbezirk“ (Okraina) haben ihr Land an eine Ölfirma verloren, die Jungen ziehen in die Stadt. „Alles wurde immer schlimmer“, verrät der Vorspann. Und dann stapfen in hohen Stiefeln und langen Mänteln ein paar männliche Archetypen mit Gewehren bewaffnet durch düstere Schwarzweiß-Bilder und suchen den Verantwortlichen.

Okraina ist eine tiefe Verbeugung vor dem sowjetischen Kino der 30er Jahre – nicht zufällig teilt er den Titel mit einem Film von Boris Barnet von 1933. Und so wie in Barnets Okraina der Hintergrund der großen Historie in Form Kollektivierung die kleine Geschichte der Durchschnittsmenschen prägt, bestimmt sie auch bei Luzik den Gang des Geschehens. Dessen Virtuosität beim Heraufbeschwören des Looks der 30er Jahre ist frappierend. Nicht nur das Filmmaterial wurde bearbeitet, um dem Schwarzweiß die entsprechenden Graustufen zu verleihen, sogar der Soundtrack, dessen Melancholie in melodischer Leichtigkeit daher kommt, besteht aus Neuarrangements von Filmmusiken Sonntags und Tschapajews aus den 30er Jahren. Und auch die Komposition der Bilder und die Handlungsführung sind kraftvoll vom Stil und Aufbau jener Zeit durchdrungen. „Selbst die Pferde schienen damals in anderer Art zu galoppieren“, sagt Luzik über die Differenzen in der Bilderproduktion damals und heute.

Und ob nun trotz oder wegen seines Retro-Charmes – Okraina nimmt sofort gefangen. Die Kamera blickt so intensiv in die Gesichter der Bauern, als könnte jede Einstellung ihre letzte sein. Und Tableaus von solcher Strenge, die zu ächzen scheinen unter der Last der mitgeschleppten Bedeutungen, waren lang nicht mehr zu sehen. Doch der für das sowjetische Kino der 30er Jahre typische Optimismus, die Welt ändern zu können, der polternde Agit-Prop-Appeal und die Überzeugung, jedem Bild auch genau eine Bedeutung zuweisen zu können, verliert sich bei Luzik im Strudel der Zitate und Mehrfachcodierungen.

Es ist eine ganz eigenartige, zugleich unaufgeregte wie entschlossene Stimmung, die Okraina auszeichnet. Eine Atmosphäre, die etwa der von Träumen entspricht, in denen Sonderbares oder gar Grausames mit einer so folgerichtigen Konsequenz abrollt, dass jedwede Erklärung schlicht überflüssig zu werden scheint. Den Traumeindruck verstärken zudem die flächigen Bilder, die die Breite der Tiefe vorziehen und selbst engste Räume weiten. Gleiches gilt für die unterschiedliche Beschleunigung in einzelnen Sequenzen, die scheinbar Nebensächliches in die Länge dehnt, Action dagegen extrem abkürzt oder als Bewegung zwischen die Bilder verlagert.

Als Allegorie auf die Ausbeutung von Arbeitern und Bauern, an der sich unter Zar, Sozialismus und Kapitalismus anscheinend nichts geändert habe, stößt Okraina freilich an Grenzen. Dass es der Annäherung an die Welt da draußen dann doch an Komplexität mangelt, ist der Preis der reduziert-suggestiven Form. Wenn die Bauern, die tatsächlich einer anderen Zeit entsprungen zu sein scheinen, am Ende ihrer Don Quichotterie im globalisierten Jetzt des Konzernwolkenkratzers angekommen sind, schluckt der Interpret ein ums andere Mal, derart metaphorisch werden da Blut und Öl hingeklotzt. Und wenn das Schlusstab-leau dann noch die Protagonisten auf Traktoren setzt und sie die Felder bestellen lässt, ist das so im Schollenpathos des Sowjetfilms verwurzelt, dass man sich fragt, ob Lachen oder Weinen die adäquatere Reaktion ist. Oder, um es mit Knarf Rellöm zu sagen: „Das war kein Sozialismus, das war Spießerkram.“

ab heute im 3001, 20.30 Uhr