Genau hinhören bei Haydn

■ „Struktur“ gingen dem SWR-Orchester und der EuropaChorakademie bei der Aufführung von Haydns „Die Jahreszeiten“ über „mulmige Gefühligkeit“

Nur von einem oberflächlichen Standpunkt aus können die 1801 entstandenen „Die Jahreszeiten“ des 70-jährigen Joseph Haydn als biedermeierliche oder harmlose Idylle gesehen werden. Das machte das Konzert der EuropaChorakademie mit dem SWR-Sinfonieorches-ter unter der Leitung von Michael Gielen am Dienstagabend in der Glocke mehr als deutlich. Sicher haben wir heute dieselben Schwierigkeiten mit dem naiven Text des Baron von Swieten, die auch Haydn schon hatte, doch ist es nicht schwer, sich mit der unglaublich originellen Musik darüber hinwegzusetzen. In den vier Kantaten werden Naturereignisse der Jahreszeiten den Reflexen der Menschen gegenübergestellt. Der Ackermann Simon bestellt sein Feld, seine Tochter Hanne liebt den Bauern Lucas, Landvolk und Jäger besingen und preisen ihr Leben.

Michael Gielen ist einer der wenigen Dirigenten, die sich jenseits der historischen Aufführungspraxis für die Entschlackung der großen Sinfonik eingesetzt haben. Hier steht er in der Tradition eines René Leibowitz und Arturo Toscanini – Struktur geht über mulmige Gefühligkeit. Bewegte Frische der Struktur, das zeichnet seinen Haydn-Stil aus. Absolut gelungen ist die Interpretation in Bezug auf den geistigen Gehalt der „Jahreszeiten“ zu bezeichnen, wenn der Winter zur Chiffre von Tod und Grab wird. Die Eindringlichkeit der Orchesterfarben überragte hier sogar noch ein anderes großes Stück: die Gewittermusik, die den Sommer beendet. Gielen arbeitete mitreißend den wilden und plastischen, auch existentiellen Bezug auf das Ausgeliefertsein des Menschen aus.

Weniger anfangen konnte Gielen mit den unendlich vielen winzigen Tonmalereien wie der krähende Hahn, die wuselnden Insekten, der Wachtelruf, das Bellen der Hunde, das Fliehen des Hirsches ... All das hätte gründlicherer Zuwendung bedurft. Diese Stellen sind kompositorisch alle derartig der Besonderheit der damaligen Instrumente entlockt, dass es die neuen eigentlich kaum können. So geriet das Ganze bei aller Qualität doch etwas gleichförmig und laut, umso mehr, weil Gielen einen unangemessenen äußeren Druck nicht ganz vermied.

Einen großen Anteil am Erfolg hatte die von Joshard Daus trefflich einstudierte EuropaChorakademie. Für solche Aufführungen geht sein Konzept, Choreinstudierungen für große Aufführungen sozusagen zur Verfügung zu stellen, voll auf. Mühelos und klangschön waren die SängerInnen den immensen Anforderungen des fast dreistündigen Werkes gewachsen.

Unter den Solisten herausragend: Blitzsauber im Ansatz und reich in den Nuancierungen verfügt sie über einen technisch ausgereiften viel verprechenden Sopran. Zuverlässig, aber ohne Charisma, Jörg Hering als Lucas und Peter Lika als Simon: Der hatte teils bewegende teils wabernd-aufgedonnerte Momente. Insgesamt war die Aufführung eine gelungene Verführung, sich wieder mit dem einfallsreichen und innovativen Werk Joseph Haydns zu beschäftigen, der nach wie vor ein unterschätzter Komponist ist. Ute Schalz-Laurenze