Lüge plus Eingeständnis ist Vertrauen

Schmollmund, sonor, auch mal schneidend. Hessens Ministerpräsident Roland Koch redet gegen alle Rücktrittsforderungen an. Die CDU an der Basis hört es gern. Wen interessiert da die FDP? ■ Von Heide Platen

RTRAUEN? Das VE fehlt noch. Hastig schiebt jemand die Pappscheibe in letzter Minute in die Halterung. Dann steht es wie ein Menetekel blau, weiß und rot an der Bühnenwand des Kaufunger Bürgerhauses in Nordhessen: „NEUES VERTRAUEN SCHAFFEN.“ Der silbergraue Mercedes ist vorgefahren. Der Star des Samstagnachmittags eilt in den Saal. Der Auftritt sitzt. Immer pünktlich – auf die Sekunde genau fünf Minuten zu spät. Und nicht etwa durch die nächstbeste Tür, sondern durch die, die ihm ein Defilee ermöglicht. Der Bezirksverband Kurhessen-Waldeck applaudiert stehend. Ministerpräsident Roland Koch blickt sich um.

Dem Mann entgeht nichts: kein Medienpulk, keine Scheinwerfer, kaum Presse. Sechzehn Kameras hatte er noch vor wenigen Tagen zum Auftakt seiner einwöchigen Tingeltour quer durch Hessen und an die Parteibasis in Frankfurt-Sachsenhausen gezählt. Und alle wollten sie nichts anderes als immer wieder seine „letzte Rede“ in Bild und Ton festhalten. Koch kokettiert: „Mein Kurswert ist gesunken.“ Das Wort „Vertrauen“ wird er in dieser Rede – wie in allen anderen auch – ungefähr ein Dutzend mal benutzen, wird es „wieder schaffen“ wollen, um selbiges „werben“, möchte es „neu gewinnen“. Manchmal ist es ihm auch „verloren gegangen“, das zu Manfred Kanther und Casimir Prinz Wittgenstein zum Beispiel.

Stille im Saal. Koch zieht sein Publikum in den Bann. Nicht so sehr durch das, was er sagt, sondern wie er es sagt. Mal laut, mal leise, schnell im Stakkato, langsam mit hoch gezogenen Schultern und gesenktem Blick, schneidend, dann jungenhaft verschmitzt mit Schmollmund, halb laut, sotto voce, zur Seite gesprochen. Die Hände machen alles das mit, deuten in den Saal, mal hämmert die linke knapp über dem Redepult, mal kreist die rechte, Zeigefinger hoch, Handgelenk in der Luft, mal greifen beide mit gespreizten Fingern weit aus, dann wandert die rechte Hand unter das Jackett aufs linke Herz. Keine der Reden gleicht so ganz der anderen.

Der Jurist kämpft mit verbaler Lust. So ist er 1999 Ministerpräsident geworden. Und so will er es auch bleiben.

Im Bezirksverband Osthessen hatte Koch am selben Vormittag schon ein Heimspiel gehabt. Im Probsteihaus der CDU-Hochburg Fulda war er nicht nur mit donnerndem Applaus, sondern auch noch mit Bravo-Rufen empfangen worden. Dort hatte er, ganz unter den seinen, der Darstellung des Opfers Roland Koch mehr Raum in seiner Rede gelassen. „Vertraut“ habe er Kanther und Wittgenstein, zwei Menschen, die zwanzig Jahre lang „gelassen, kalt und kühl“ in einer „brutalen Form gelogen“, hätten. Seit dem Dezember sei gegenseitiges Misstrauen in die CDU-Zentrale eingezogen: „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht gegenseitig alle zu Schweinen werden.“

Leichgewichtsboxer bei redegewandter Beinarbeit

Warum erinnert Koch, der sich selbst lieber als Hobby-Koch sieht und seine Vorträge gerne mit Zutaten aus dem Reich der Saucen und Salate würzt, nur so sehr an einen Leichtgewichtsboxer? So viel redegewandte Beinarbeit, er dribbelt vor, zurück, weicht zur Seite aus, fintet, deckt. Steckt ein, steht in Fallgeschwindigkeit wieder auf und ist, täglich neu angezählt, nicht in die Seile zu kriegen, obwohl so viele seit Wochen so oft seinen Rücktritt gefordert haben.

Und er punktet sich an der Basis hoch. Mündlich und schriftlich. Seine Chronologie der hessischen Schwarzkonten in der Schweiz und Liechtenstein liegt am Eingang stapelweise aus. Titel: „Schonungslose Aufklärung“. Ist in der Ichform geschrieben, liest sich wie ein Tagebuch. Wittgenstein, Weyrauch, Kanther: die Bösewichte. Koch: der Betrogene, daher „der Dumme“. Und, Rollenwechsel vom Harlekin zum Helden, doch auch der Kluge, der Aufmerksame, der schon im Dezember an anderthalb Millionen Mark Parteivermögen Anstoß nahm, Unrat witterte, sich dann aber aus Parteiräson kurzfristig entschloss, einen falschen Rechenschaftsbericht abzusegnen. Er habe, versichert er immer wieder, das Geld damals nicht gewollt und deshalb akzeptiert, dass es nachträglich rückdatiert als Darlehen des Prinzen ausgewiesen wurde. Es sollte zurückgezahlt werden.

Das wäre dann, redete er wahr, tatsächlich jener „Treppenwitz der Geschichte“, den der Mann immer wieder zu seinen Gunsten reklamiert. Habe sich doch eben durch seinen „brutalstmöglichen“ Aufklärungseinsatz herausgestellt, dass auf den schwarzen Konten nur sauberes, parteieigenes Geld schlummerte und artig Zinsen trug. Das habe auch er „nicht im Traum“ gedacht: „Wir hätten unser eigenes Geld zurückgezahlt.“ Das stelle man sich mal vor!

So viel Ärger für nothing? Warum Wittgenstein und Co. das Geld denn überhaupt fortschafften und versteckten? Das fragen ihn die Parteimitglieder in allen Veranstaltungen immer und immer wieder. Warum diese kriminelle Energie bei der Rückführung des eigenen Geldes bis hin zu der wittgensteinschen Lüge von den jüdischen Vermächtnissen? Kochs Schultern gehen jedesmal hoch, signalisieren Ratlosigkeit: „Warum? Um Himmels willen, wenn ich das wüsste!“ „Klaustrophobie vielleicht?“, bietet er in Kaufungen an. Oder: „Dass Wittgenstein dachte, Politiker können nicht mit Geld umgehen?“ In Fulda wird nicht so gründlich nachgefragt. Da sagt er einfach: „Ich weiß es nicht.“ In Frankfurt, wohin ein Löwenanteil des Schwargeldes gezahlt wurde, macht er ein Gesicht, als habe er gerade eine Zitrone zu verspeisen: „Weiß der Himmel, weiß der Teufel!“ Vielleicht: „Angst? Sorge? Dann kommen die Kreisverbände und rauben das?“

Von Roland Koch lernen, das heißt Siegen lernen. Die Tatsache, dass er selbst über seine Mitwisser- und Täterschaft beim Vertuschen schwieg, dass er dann auch noch wochenlang Ehrlichkeit predigte und doch die Unwahrheit sagte, verflüchtigt sich im Redefluss.

Wenn einer wie er, lernt das Publikum, versucht, den ohnehin und absehbar unausweichlichen Schaden erst zu vertuschen, dann zu begrenzen, den andere angerichtet haben, dann ist das die „brutalstmögliche Aufklärung“. Wenn einer, der wochenlang lügt, sich selbst einen Unwahrheitsager nennt und das dann im Nachhinein zu „einem Fehler“ redet, dann ist das Ehrlichkeit.

„Ich habe mich damals entschlossen, bei der alten Version zu bleiben. Und das war ein Fehler“, sagt er denn auch. Und ist vorübergehend zerknirscht: „Sie alle zahlen dafür. Und das tut mir außerordentlich leid.“ Die Hand, mit der er auf sich selber deutet, weist flugs in den Saal zurück: „Denn wer“, fragt der Ministerpräsident, „kann von sich sagen, dass er keinen Fehler macht?“ Und wer wollte da nicht zustimmen?

Kochs Credo folgt als moralische Gleichung: Fehler vertuschen ergibt die erste Lüge plus deren Vertuschung ergibt eine neue Lüge und so weiter und so fort. Die Auflösung des Rechenexempels: Eingeständnis ergibt nicht Rücktritt, sondern menschliche Größe.

Koch legt die Daumenschrauben an: „Selbstverständlich geht es in der hessischen CDU auch ohne mich.“ Der Untergang des christlichen Abendlandes, suggeriert er, wäre sein Rücktritt nicht. Oder doch? „In der Krise ist das Risiko des Zerfalls groß“, doziert Koch über die europaweite Situation der Christdemokraten und diagnostiziert „Zerfallsprozesse bürgerlicher Parteien“ von Italien bis Großbritannien. Das doch lieber nicht in Hessen, oder? Koch lobt sich schnell selbst. Ein „paar richtige Entscheidungen“ habe er in seiner Regierungszeit doch immerhin getroffen? Da muss der befreiende Lacher folgen: „Bis auf eine, und die war aber auch richtig falsch.“ Flughafenausbau, aber, Bildungs- und Verkehrspoltik dagegengesetzt, ist die Konsequenz unausweichlich: Das beste Rezept gegen das, was Koch so anrichtet, ist und bleibt der Koch selbst.

Die Basis in den rappelvollen Sälen der Bürgerhäuser begreift das so, und sie will das auch so. Koch hat sie auf sich eingeschworen, ihr schon einmal vor der 1999 fast aussichtslosen Landtagswahl Mut gemacht. Das ist unvergessen.

Und nun ist nach der Wahl wieder wie vor der Wahl.

So ist sie, die Basis: stehende Ovationen für Koch

Koch streichelt die Parteiseele, lobt Geschlossenheit und Solidarität der hessischen CDU. Und verteilt Seitenhiebe nach Berlin. Wäre er so wie Wolfgang Schäuble in „Ränke“ und „freundliches Feuer“ geraten, dann, deutet er an, wäre er natürlich zurückgetreten. Der reuige Sünder Koch geht schließlich so aus dem Saal wie er hineingekommen ist: begleitet von stehenden Ovationen.

„Wie Pech und und Schwefel“ müsse man in diesen harten Zeiten zusammenhalten, hatte ein Parteimitglied am Saaleingang ganz unchristlich gemahnt. Vor dem Kaufunger Bürgerhaus fordert eine kleine Gruppe nordhessischer Sozialdemokraten mit Transparenten Neuwahlen. „Bevor der Koch zurücktritt, friert eher die Hölle ein“, sagt einer fast resigniert.

Die Führung der hessischen FDP sieht das auch so. Mehrheitlich steht sie weiter in Treue fest zur schwarz-gelben Wiesbadener Koalition mit Koch. Da nützten auch mehrere Blitzbesuche der FDP-Parteispitze nichts. Aber die rudert nach dem Wahlerfolg in Schleswig-Holstein ohnehin vorsichtig zurück. Koch kann sich zurückhalten. Er lobt die hessische FDP-Vorsitzende Ruth Wagner für ihre „Courage“ und tadelt die Berliner FDP-Führung nur mäßig, verbindlich im Ton, beinhart in der Sache. Die FDP sei eine „souveräne Partei“: „Die CDU aber auch!“ Da klingt zwischen den Zeilen unüberhörbar durch, dass er bleiben will, mit oder ohne die FDP.

Über den Fortbestand der Koalition wird der Sonderparteitag der Liberalen entscheiden. Morgen. Noch zwei Drittel der rund 300 Delegierten unterstützen Ruth Wagner. Heute tagt außerdem das Wahlprüfungsgericht in Wiesbaden, das entscheiden wird, ob es die Rechtsgültigkeit der Hessen-Wahl überprüfen muss.

Dass Koch sich darum ebenso wenig Sorgen macht wie um den FDP-Sonderparteitag, signalisiert der Terminkalender des Ministerpräsidenten. Samstagabend hat er sich auf dem Frankfurter Opernball angesagt, am Sonntag will er zu einem anderen hessichen Krisenherd eilen – zum Spiel der Eintracht Frankfurt gegen Borussia Dortmund im Waldstadion.