Der Gebrauchskomponist

Vor 100 Jahren wurde Kurt Weill geboren. Ein Tondichter,dessen Werk mehr als drei Groschen wert ist Von JAN FEDDERSEN

Offenbar scheuen die Intendanzen der staatlich subventionierten Orte das Risiko. Die von Kurt Weill im amerikanischen Exil komponierten Musicals waren zumindest in Berlin hin und wieder zu sehen – aber das Publikum bestrafte die Mühen, einen Komponisten mit sperrigen Produktionen vorzustellen, mit Desinteresse. In der Akademie der Künste ist von diesem Wochenende wenigstens eine akkurat gestaltete Ausstellung zu Leben und Werk Kurt Weills zu sehen; der Ullstein Verlag hat hierzu einen opulenten Katalog veröffentlicht. Wer will, kann sich mit ihm vertraut machen, der in Deutschland wieder unbekannt ist.

Aber werden das auch Menschen wollen, die bislang wenig von Weill gehört haben? Wahrscheinlich kommen wieder nur die, die eh schon alles wissen. Kurt Weill – das ist der Komponist, der Popmusikern wie Marianne Faithful und Sting, Lou Reed und Tom Waits 1986 die Gelegenheit gab, unter dem Titel „Lost In The Stars“ einen kunsthandwerklichen Ausflug ins Fach gediegener Klassik des zwanzigsten Jahrhunderts zu unternehmen. Ute Lemper stand diesem Unterfangen nicht nach; die deutsche Diseuse absolvierte mit einem Kurt-Weill-Programm eine erfolgreiche Tournee. Wer sich vom Ruch der Charthörigkeit lossagen will, profiliert sich gern mit den Stücken eines Mannes, der in den USA als Amerikaner gilt und in Deutschland als Melodiendesigner für die Singspiele Bertolt Brechts. Aber hätte dies im Interesse Weills gelegen?

Geboren wurde er in der anhaltinischen Residenzstadt Dessau am 2. März 1900 als Sohn eines Kantors und einer Rabbinertochter. Seine Familie, so erzählte Kurt Weill später selbst, legte großen Wert auf ihren Stammbaum: Bis ins 13. Jahrhundert hinein habe man deutsche Wurzeln. Trotzdem durften damals Juden nicht im Zentrum Dessaus (oder der meisten anderen deutschen Städte) wohnen. Erst einige Jahre nach seiner Geburt durften die Weills näher in den Kern ziehen, in eine Dienstwohnung der neuen Synagoge. Die zu bauen war erst erlaubt, nachdem eine jüdische Mäzenatin der Stadt eine exorbitante Geldsumme hinterließ, die zum Aufbau eines modernen Sozialwesens verwendet werden sollte.

Für Juden wie die Weills waren die Emanzipationsmühen, endlich in der deutschen, mehrheitlich christlichen Gesellschaft als honorige Mitbürger anerkannt zu werden, erfolgreich. Wahrscheinlich aber ist, dass eine gewisse, nicht zu überbrückende Distanz zur nichtjüdischen Gesellschaft erhalten blieb – und zwar aus Erfahrung und Misstrauen zugleich. Wie viele jüdische Deutsche definierte auch die Familie Weill ihren Aufstieg über die profunde und ehrgeizige Schul- und Ausbildung ihrer Kinder. Curt (erst später schrieb er sich, weil deutscher, als: Kurt) war der rührigste und ambitionierteste unter den vier Kindern von Albert und Emma Weill. 1913 hatte er seine erste Komposition vollendet, einen jüdischen Trauungsgesang unter dem Namen „Mi Addir“. Zwei Jahre darauf beginnt seine systematische Ausbildung zum Musiker: Privatschüler beim Ersten Kapellmeister des Herzoglichen Hoftheaters. Als Achtzehnjähriger schließlich der Wechsel an die Musikhochschule nach Berlin, wo er es allerdings nicht lange unter der pädagogischen Fuchtel von Engelbert Humperdinck aushält. Auf dessen romantikseligen Biedersinn wollte er sich nicht trimmen lassen.

Nach einem kurzen Zwischengastspiel in seiner Heimatstadt arbeitet Weill einige Monate im westdeutschen Lüdenscheid, ehe er endgültig Ende 1920 nach Berlin wechselt.

Weill wollte unbedingt zurück in Deutschlands einzige Metropole. Dorthin, wo es am quirligsten war, wo sich alle Avantgarden versammelt zu haben schienen – und wo die Auswahl an Frauen am größten war. 1924 lernte er dort die Frau kennen, die sein Leben entscheidend beeinflussen sollte: Lotte Lenya, eine so ambitionierte wie begabte Schauspielerin und Sängerin, die sich in Weill gerade deshalb verliebte, weil er trotz seiner eher kleinen Gestalt so eine furchterregende Aura hatte. Gerade 26 Jahre jung geworden, bringt Weill seine erste Oper, „Der Protagonist“, zur Uraufführung.

Kurt Weill war ein Star am Bühnenhimmel der so genannten goldenen Zwanzigerjahre. 1927 beginnen Bertolt Brecht und Kurt Weill ihre Zusammenarbeit. Die Krönung ihrer Liaison wird die „Dreigroschenoper“, der Theodor W. Adorno allerhöchstes Lob spendete: „Mit der Gemütlichkeit der praktikablen Operette, mit der frischfröhlichen Gebrauchsmusik hat es ein jähes Ende.“ Ein – vom Rezensenten allerdings gezielt gestreutes – Missverständnis: Brecht und Weill verstanden ihr Stück weniger als elaborierten Versuch, der Operette als Form des Entertainments den Garaus zu machen, vielmehr wollten sie sie gerade mit ihren eigenen Mitteln schlagen. In der Oper über Hunger und Moral dominierten schmissige, freche Texte, die von zackigen, mitsingbaren, also gassenhauerartigen Melodien getragen werden. Noch heute gehören die garstigen „Hopplas“ der Seeräuberjenny zum Muss jeder Chansonsängerin: ein Schlager im eigentlichen Sinne. Brecht empfand Weill politisch als seinen Schüler: Denn bis zu „Mahagonny“ habe der Dessauer nur „ziemlich komplizierte, hauptsächlich psychologisierende Musik geschrieben, und als er in die Komposition mehr oder weniger banaler Songtexte einwilligte, brach er mutig mit einem zähen Vorurteil der kompakten Majorität ernsthafter Komponisten“.

Nach der Arbeitsperiode mit Brecht sollte es mehr als zehn Jahre dauern, ehe sich Weill wieder darauf verstand, sich mit der „kompakten Majorität ernsthafter Komponisten“ anzulegen. Das war im amerikanischen Exil, besser: in der neuen Heimat, zu der die Vereinigten Staaten ihm und Lotte Lenya wurden. Weill war in jeder Hinsicht ein Wunder an Anpassung, was nicht böse klingen soll: Der Mann verstand sich einfach darauf, die richtigen Dinge zur rechten Zeit zu machen.

1933 ahnt er, dass Deutschland die längste Zeit sein Land gewesen sein wird. Am 22. März verlässt er das Land, von dem seine Familie immer angenommen hatte, es würde auch zu einer Heimat der Juden werden. Die Nazis hassten ihn, verabscheuten seine Musik, die sie als „typisch jüdisch“ geißelten, weil sie metropol und modern und nach „Niggerjazz“ klang. Nach der Flucht beschnitt sein Verlag ihm auf der Stelle die Tantiemen. In Paris komponiert Weill einige Stücke, die nach Meinung von Kennern ebenso französisch klingen wie vergleichbare Werke dort geborener Künstler. Der Mann hatte die Mentalitäten anderer Länder und Kulturen einfach in der Nase. Mitte der Dreißigerjahre kommen die Weills in den USA an. Dort beginnt die zweite Karriere des Kurt Weill. Auftragsarbeiten für Hollywood, Zusammenarbeit mit den damals populärsten Songwritern Ira und George Gershwin, 1941 der Durchbruch am Broadway mit „Lady In The Dark“. Er schreibt Propagandastücke gegen Nazideutschland und bekennt ohne Wehmut, dass Amerika jetzt sein Land ist: „I’m an American!“ Und die heikelste Stelle in den Seelen aller Emigranten ansprechend: „Wenn ich auf eine einsame Insel verschlagen würde, so hätte ich niemals Heimweh nach Berlin, Dessau oder Lüdenscheid. Heimweh hätte ich nach dem Drugstore von New York City.“

Es sollten noch weitere erfolgreiche Jahre in New York folgen. Ende der Vierzigerjahre wird das Musical „Lost in the Stars“ am Broadway uraufgeführt. Weill gilt als ebenbürtig zu George Gershwin. Seine Frau Lotte Lenya wird erst lange nach seinem Tod den Ruhm ernten, den sie so lange als seine Muse vermisst hat, auch in einer Nebenrolle als KGB-Agentin in einem James-Bond-Film, vor allem als kongeniale Interpretin der Lieder ihres Mannes. Kurt Weill starb jung, fünfzigjährig, am 3. April an den Folgen einer Koronarthrombose in New York.

Seltsam mutet tatsächlich an, weshalb Kurt Weill noch immer vorwiegend als Komponist der „Dreigroschenoper“ wahrgenommen wird, sein amerikanisches Werk hingegen eine zu vernachlässigende Größe bleibt. Immerhin hat der gebürtige Deutsche, ein flüchtiger Blick in sein Werkverzeichnis genügt, mehr kammermusikalische Stücke geschrieben, mehr Opern geschaffen als die meisten seiner Kollegen wie beispielsweise Arnold Schönberg. Liegt es daran, dass Weill – für Bildungsbürger unverzeihlich – sich einen Ausflug ins Unterhaltungsfach geleistet hat und dies obendrein nie bedauerte? Oder liegt die schwache Reaktion, seine Bühnenstücke aufführen zu lassen, an einem Manko, das nahezu jede Oper von Giacomo Puccini oder jede Sinfonie Ludwig van Beethovens erfüllt, die Möglichkeit, sich im Parkett in erhaben-versunkener Pose, ganz seelenvoll und allen Plebejern fern, an die Musik anzuschmiegen?

Ohne Weill, so der erfolgreiche Broadwaykomponist Stephen Sondheim („Send in the Clowns“), hätte er sich nicht getraut, „ernste Anliegen als Musical zu verpacken“. Amerikanische Glorie erntete Weill nach seinem Tod beim großen Publikum nicht; Leonard Bernstein („West Side Story“) und Sondheim waren populärer, Gershwin als Avantgardist modernen Metropolengefühls ohnehin. Sie haben von Weill profitiert, vor allem von seiner kompositorischen Strenge und vom Mut, den Elfenbeinturm der E-Musik, wenigstens vom Anspruch her, zu verlassen.

In Deutschland hingegen herrscht immer noch die Operette – nur heißt sie heute Musical und entstammt meist der Feder Andrew Lloyd-Webbers.

Jan Feddersen, 42, Redakteur des taz.mag, lebt in Berlin. Die ihm liebste Version der „Seeräuberjenny“ sang in den Sechzigerjahren Hilde Knef