Entnazifizierung

Auf der Potsdamer Konferenz diskutierten die Alliierten im Sommer 1945 über die deutsche Nachkriegsordnung. Dem Land solle die Möglichkeit gegeben werden, „sich darauf vorzubereiten, sein Leben auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage wiederaufzubauen, hieß es im Potsdamer Abkommen. Als wichtiger Schritt wurde die Entnazifizierung gesehen: Nazis sollten aus allen öffentlichen und halböffentlichen Ämtern verschwinden sowie wichtige Posten in der Privatwirtschaft räumen.

Die Militärregierungen der vier Besatzungszonen versuchten, auf unterschiedlichen Wegen dieses Ziel zu erreichen: Für die Franzosen war die Säuberung ein reiner Verwaltungsakt, der in erster Linie unter dem Gesichtpunkt der politischen Zweckmäßigkeit abgewickelt wurde. 18.983 Menschen wurden verhaftet und interniert. In der britischen Zone waren es 64.500. Dort ging es jedoch vor allem darum, ein effizientes Behördenwesen zu installieren. Dabei durften auch zahlreiche ehemalige Beamte des Dritten Reiches mithelfen – mit der Entnazifizierung wurde es nicht so genau genommen.

Anders die Amerikaner: Schon im Sommer 1944 hatten Dutzende von prominenten Wissenschaftlern, darunter auch Magaret Mead und Erich Fromm, über „Deutschland nach dem Krieg“ beraten. Sie empfahlen der US-Regierung, das kollektiv neurotische deutsche Volk zu bestrafen und umzuerziehen. So hieß es in der Direktive ICS 1067 zur Handlungsanweisung für die amerikanische Besatzungspolitik: „Die Deutschen müssen lernen, einen friedfertigen Lebenswandel und die Regeln der Bescheidenheit und Menschenliebe zu wollen.“

Einer Verhaftungswelle in der amerikanischen Zone (95.250 Personen) folgte eine riesige Befragungsaktion: 13 Millionen Deutschen (Gesamtbevölkerung: 17 Millionen) wurde ein Fragebogen mit 131 Punkten vorgelegt. Als die US-Militärregierung die Papierberge nicht mehr bewältigen konnte, übergab sie die Bearbeitung den Deutschen: Sie installierte 545 Spruchkammern mit 22.000 Mitgliedern. Dort wurden die Deutschen in fünf Kategorien eingestuft: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete. Wer in eine der ersten drei Sparten einsortiert wurde, dem drohten Strafen wie Arbeitslager (bis zu zehn Jahren), Berufsverbot, Amtsverlust, Pensionsverlust und Aberkennung des aktiven und passiven Wahlrechtes. Mitläufer mussten Geldstrafen bezahlen.

Die Kammern gerieten bald in den Ruf, zu viele „Persilscheine“ auszustellen. Tatsächlich kamen drei Viertel der Betroffenen ohne Verfahren davon oder wurden begnadigt. Ein Grund für die Milde: Die Richter des NS-Regimes waren wieder im Amt. Keiner von ihnen ist je rechtskräftig verurteilt worden. So konnten auch Hans Globke, einer der Kommentatoren der Nürnberger Rassengesetze, 1949 problemlos einen Job im Kanzleramt bekommen. Er arbeitete dort von 1953 bis 1963 als Staatssekretär und Adenauer-Berater. Mit Karl Filbinger schaffte es ein NS-Kriegsrichter sogar zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. 1978 trat er auf Druck der Öffentlichkeit zurück – ohne Scham oder Reue zu zeigen: „Was damals Rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein“, sagte er.

Die Sowjets führten die Entnazifizierung in ihrer Zone schnell und rigoros durch. In Schnellverfahren wurde über 30.000 Deutsche gerichtet. Neben hohen Freiheitsstrafen ergingen bis 1950 auch über 500 Todesurteile. Vier Fünftel der Richter und Staatsanwälte sowie fast alle Lehrer mussten den Dienst quittieren. Bei den braunen Mitläufern waren die Kommunisten weniger hart. Schon bei den ersten Gemeinderatswahlen im Juni 1946 durften sie wieder mitmachen. Viele ehemalige NSDAP-Mitglieder traten in die neu entstandene SED ein.

Die junge Bundesrepublik beendete die Entnazifizierung mit schnell auf den Weg gebrachten Straffreiheitsgesetzen: 1949 und 1954 verabschiedete die Regierung umfassende Amnestien. 1951 wurden entnazifizierte Soldaten und Beamte rehabilitiert. Kanzler Konrad Adenauer erklärte zu dieser Schlussstrichpolitik 1949: „Wir haben so verwirrte Zeitverhältnisse hinter uns, dass es sich empfiehlt, generell Tabula rasa zu machen.“ NADINE LANGE