Baukasten statt Erleuchtung

■ Köpfe und Körper von Auguste Rodin und seinen Kollegen Aristide Maillol, Bernhard Hoetger, Henri Matisse und Pablo Picasso beleben das Paula-Modersohn-Becker-Museum

Menschen, nichts als Menschen. Und ganz am Ende kulminiert die Rodin & Co-Ausstellung in einem Narrenkopf – passend zur Karnevalszeit. Weil er von Picasso ist, hat er nichts zu lachen, sondern blickt melancholisch wie das Leben. Die meisten Skulpturen sind nackt und doch oft eingehüllt in Bedeutungszusammenhänge. Zwar ist um 1900 die Zeit vorbei, in der die Bildhauerei vorwiegend staatstragend wirkte und als ,Denkmal' das Denken über Macht und Krieg zu steuern hatte. Aber nach wie vor werden oft Geschichten und Geschichte erzählt, sei's in Rodins berühmter „Höllenpforte“ (1880-1917) nach Dante-Motiven, seinem Mino-taurus, der sich eine Frau gefügig macht, oder in den Bürgern von Calais, jener Figurengruppe mit der die Stadt Calais den Bürgersinn als Selbstaufopferung definierte. Sie erinnert an die sechs Männer, die sich im 14. Jahrhundert freiwillig den englischen Belagerern auslieferten und so die Stadt retteten. Alte und neue Inhalte, Bauart und Menschenbild der Plastik um 1900 in Paris sind Thema dieser Ausstellung im Paula Moderssohn-Becker Museum.

Eine der beliebtesten Figuren des 19. Jahrhunderts stammt von Johann Heinrich Dannecker. Sie zeigt eine Nackte, die furchtlos und erhobenen Hauptes auf einem grimmigen Panther ruht. Mit diesem Zusammengehen von Stärke und Weiblichkeit beeindruckte die Plastik zum Beispiel auch Robert Schumann. Bei Rodin dagegen findet sich keine starke Frau. Die Gefallenen des Höllentors bedienen allerschönste Männerfantasien. Sie winden sich und bedecken ihre Augen, schamhaft und furchtsam. Nur eine Skulptur huldigt nicht der weiblichen Schwäche. Es ist jene „Muse“, die über den vergrübelten Bildhauer wie eine Naturgewalt hereinstürzt.

Isabelle Adjani verfolgte in ihrem kitschverdächtigen Film über Rodins Muse, Modell, Kollegin, Geliebte Camille Claudel eine ganz bestimmte Vorstellung vom Schöpferprozess. In langwierigen nächtlichen Sitzungen wird dem hingebungsvollen Modell unter viel Ächzen, Stöhnen, Erotik und Erleuchtung ein Maximum an Expression abgerungen. Ausstellungskurator Michael Kuhlemann zeigt, dass alles ganz anders war. Rodin besaß einen Baukasten mit kleinen Gliedmaßen aus Gips – Köpfe, Arme, Rümpfe. Mit diesen erprobte er verschiedene Kombinationsvarianten – eine Mischung aus Frankenstein und fordistischer Effizienz. Expressivität entsteht in nüchterner Baukastenmethode: Arm Nr.2 + Bein Nr.7 + Kopf Nr.3 ... Dieses additive Verfahren setzt sich auf höherer Ebene fort. Einzelfiguren werden unterschiedlich gruppiert. So sieht man ein und denselben Mino-taurus gleich dreimal mit unterschiedlichen Frauen zugange. „Thema und Variation“ lautet deshalb die Kapitelüberschrift eines Ausstellungsteils. Andersherum galt das legendäre Höllentor nicht als unzerteilbares Ganzes. Manche Figuren wurden auch einzeln verscheuert und zwar in unterschiedlichen Größen. Am berühmtesten sind der seltsam muskulöse „Denker“ und der „Kuss“. So rational und abgebrüht dieses Vorgehen heute wirkt, für Rodin war es ein organologisches Wachstumsprinzip, wie es schon bei den heißgeliebten, über Jahrhunderte zusammengeschusterten Kathedralen zu finden war.

„Wenn Baudelaire bei einem schmutzigen, von Würmern zerfressenen Aas an seine angebetete Geliebte denkt, so gibt es kaum etwas Glänzenderes als diese Gegenüberstellung der Schönheit und der grausamen Zersetzung, die sie erwartet.“ Obwohl der Baudelaire-Freund Rodin immer mal wieder das Lob der Hässlichkeit sang, wirken die Arbeiten von ihm und seinen Kollegen oft idealisierend. Besonders natürlich bei Aristide Maillol, der von Rodin trotz aller Gegensätzlichkeit geschätzt wurde. Schön ist selbst die Arbeit. Bauer, Sähmann, Schiffszieher, Schiffslöscher: meist zeigen Rodin, Hoetger, Constantin Meunier und Aime-Jules Dalou sie als Herkulesse und Helden. „Heute scheinen fast alle Menschen die Arbeit als eine abscheuliche Notwendigkeit zu betrachten, während sie, als ein Glück für uns, als unsere Daseinsberechtigung aufgefasst werden müsste“, schwärmte Rodin. Eine solche „Daseinsberechtigung“ verschaffte er 50 Menschen. Soviel Mitarbeiter hatte seine Werkstatt in Boomzeiten.

Der Besucher fühlt sich in der Ausstellung wie ein Wanderer durch eine eingefrorene Welt. Besonders reizvoll ist ein Parcourt aus schreienden, leidenden, schmunzelnden, nachsinnenden Köpfen. Bei dieser Stellung wirkt das, als wollten sie mit uns reden. Menschen, nichts als Menschen. bk

„Rodin und die Skulptur im Paris der Jahrhundertwende“ ist bis zum 21. Mai im Paula Modersohn-Becker Museum zu sehen. zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen (39 Mark)