Klein-Littleton bald in Berlin?

Die Berichte über Gewalt in Schulen häufen sich, obwohl die Straftaten nicht signifikant zunehmen. Gewaltforscher warnenvor Skandalisierung. Sie fordern jedoch, jeden Fall ernst zu nehmen und empfehlen Konflikttraining statt Repression

von JULIA NAUMANN

Die Schlagzeilen häufen sich: Fast täglich berichten die Medien über geplante oder ausgeführte Gewalttaten an Schulen: Am John-F.-Kennedy-Gymnasium kursiere eine „Todesliste“, auf der acht Mädchen stünden. In einer Weddinger Hauptschule bedrohte ein Schüler mit einer Spielzeugwaffe einen Lehrer und Mitschüler und schrie im Streit, dass er sie umbringen wolle.

Im brandenburgischen Müncheberg plante ein Mädchen ein Blutbad nach dem Vorbild des Massakers in der US-Stadt Littleton, wo zwei Schüler 12 Mitschüler töteten. In Neuruppin wurde ein Schüler vom Amtsgericht verwarnt, weil er ein Gedicht geschrieben hatte, in dem es um den Mord an einem Lehrer seiner Schule ging. Als Strafe musste er ein Gedicht über Liebe schreiben. Und vor einigen Monaten, im sächsischen Meißen, hatte ein Gymnasiast eine Lehrerin erschossen.

Wird Littleton bald Wirklichkeit in Berlin? Fakt ist, dass Gewalt an der Schule zwischen Schülern und Lehrern sowie zwischen Schülern und Schülern in den vergangenen Jahren nicht signifikant gestiegen ist, betont Thomas John, Sprecher von Schulsenator Klaus Böger (SPD). Allerdings habe es mehr „Aufsehen erregende Fälle“ als in der Vergangenheit gegeben. „Das ist eine neue Qualität.“

Der schlimmste Vorfall in der Hauptstadt ereignete sich vor anderthalb Jahren, als an einer Hohenschönhauser Gesamtschule ein 15-jähriger Junge mit einem Taschenmesser auf seine Mathematiklehrerin einstach. Sein Motiv: Wut über eine Vier im Mathe-Test. Die Lehrerin ist bis heute berurlaubt.

Die deutschen Medien sind durch die Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen in den USA – erst vor drei Tagen erschoss ein 6-Jähriger ein gleichaltriges Mädchen – sensibilisiert für ähnliche Fälle in Deutschland. Aber die gibt es in diesem Ausmaß bisher noch nicht. Deshalb werden relativ harmlose Fälle häufiger skandalisiert.

Gewaltfantasien hatten Kinder und Jugendliche schon immer, sagen PädagogInnen und WissenschaftlerInnen übereinstimmend. „Die Lust, sich etwas Gruseliges auszumalen, ist nicht neu“, sagt Petra Best vom Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis in München. Videos und Computerspiele seien nicht die Ursache, aber ein Verstärker der Gewaltbereitschaft, meint Klaus Hurrelmann, Sozialwissenschaftler der Universität Bielefeld.

Taten wie in Littleton sind jedoch animierend, wie es der Müncheberger Fall zeigt. Doch im Gegensatz zu den USA liegen in Deutschland die Waffen nicht in den Wohnzimmern herum, Gewaltexzesse sind daher weniger realistisch.

Doch ab wann müssen Jugendliche mit ihren Gewaltfantasien ernst genommen werden? Wenn jemand niederschreibt und verbreitet, wen er umbringen will, muss spätestens eingegriffen werden, findet Petra Best. „Das muss als Hilferuf interpretiert werden.“ Gleich die Polizei einzuschalten, hält die Pädagogin nicht für sinnvoll. „Damit werden die Kinder in eine kriminelle Ecke gerückt.“ Die 16-jährige Münchebergerin Sissy St. sitzt seit ihrer Massaker-Planung in Haft. „Das ist völlig unverhältnismäßig“, findet Best.

Andreas Kuhlmann, Lehrer und Autor des Buches „Faustrecht. Gewalt in Schule und Freizeit“, glaubt, dass es entscheidend sei, schon im Vorfeld jeden noch so nichtigen Fall ernst zu nehmen und sich intensiv um die Jugendlichen zu kümmern.

Denn: „Die Nachahmetaten stabilisieren sich auf hohem Niveau und das ist beunruhigend.“ Durch die zahlreichen Medienberichte fühlen sich die Kids ermutigt. Sie wollen endlich auch mal im Mittelpunkt stehen, Anerkennung bekommen. „Es geht um die Statusaufbesserung innerhalb der In-Group“, sagt Jugendforscher Wilhelm Heitmeyer.

Die fehlende Anerkennung muss durch pädagogische Arbeit mit den Jugendlichen kompensiert weren, zum Beispiel im Selbstbehauptungstraining. Dort sollen sie lernen, mit Konflikten friedfertiger umzugehen. Denn, so ist Heitmeyer überzeugt, Anerkennung gebe es im schulischen Bereich immer weniger: „Es zählt nur noch die messbare Leistung.“