Wenn die Geschichten Fahrt aufnehmen

Für „Ortegas Finale“ versteckt sich der amerikanische Schriftsteller Stewart O’Nan hinter dem Pseudonym James Coltrane. Das Buch ist ein Remake von Hemingways „Wem die Stunde schlägt“ und zeigt wieder jenen O’Nan, der sich für seine Literatur am liebsten in der amerikanischen Popkultur bedient

von GERRIT BARTELS

Die Veröffentlichung von James Coltranes Buch „Ortegas Finale“ hat ein bisschen was von Gesellschaftsspielen wie „Stadt, Land, Fluss“ oder „Trivial Pursuit“. James Coltrane? Ein Schriftsteller, den man kennen muss? Und erinnert der Titel „Ortegas Finale“ nicht auch ein anderes Buch aus einer anderen Zeit? Der Verlag kündigte in seinen Frühjahrsprospekt an, hinter dem Namen James Coltrane verberge sich „ein bekannter amerikanischer Schriftsteller“, „enthüllte“ dann schnell, dass derjenige welche Stewart O’Nan sei. Und zumindest diesen Namen sollte man kennen, wenn man „Trivial Pursuit“ spielt, erschrieb sich O’Nan doch mit seinen ersten beiden Romanen in Deutschland eine recht große Fangemeinde, die bis in die Feuilletonredaktion der FAZ reicht: Für diese arbeitet O’Nan als fester Kolumnist für speziell amerikanische Themen wie beispielsweise die libidinöse Beziehung seiner Landsleute zu den Autos von Chrysler.

Im letzten Jahr schließlich räumte der 39-Jährige öfters mal auftauchende Zweifel an der Haltbarkeit und Tiefe seiner Bücher mit seinem fast 500 Seiten langen Epos „Der Sommer der Züge“ aus. Angesiedelt im Amerika zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, wog dieser historische Roman nicht nur schwer an Seiten, sondern glänzte auch durch die komplexe Charakterisierung seiner Figuren und einen geradezu überbordernden Detailreichtum.

Da überrascht es erst mal nicht, wenn nun von Verlagsseite gleich noch zwei andere (große) Namen mit ins Coltrane-Spiel gebracht werden: „Ortegas Finale“ sei in der Tradition von Ernest Hemingway und Graham Greene geschrieben, heißt es hinten auf dem Schutzumschlag – was unter gängige Produktwerbung fällt, in diesem Fall aber mehr Sinn als sonst macht. Denn es braucht nur wenige Seiten, um festzustellen, dass „Ortegas Finale“ ein literarisches Remake ist.

Da beobachten zwei Männer von einem zerstörten Hotel aus eine Radiostation in der Kleinstadt Santa Rosa auf Kuba. Der eine von ihnen ist der Exilkubaner Jorge Ortega. Er wurde von der „Firma“ beauftragt, diese Radiostation einzunehmen, um ein Jahr nach Castros Tod den endgültigen Sturz der Fidelistas vorzubereiten. Eigentlich ist für Ortega dieser Einsatz kein gewöhnlicher: Zur „Firma“ ist er nur gekommen, um irgendwann wieder in seiner Heimat zu landen und Kuba vom Kommunismus zu befreien. Doch seine vorherigen Einsätze haben aus ihm einen ziemlich hoffnungslosen Typen ohne Ideale und mit haufenweise Schuldgefühlen gemacht – O’Nan lässt von der ersten Zeile an keinen Zweifel daran, dass Ortega scheitern wird.

Und so kommt einem „Ortegas Finale“ auch schnell ziemlich spanisch vor. Abgesehen vom Schauplatz und der Tatsache, dass die Geschichte in einer nicht genauer zu bestimmenden Zukunft ansiedelt ist, hat O’Nan sich mit diesem Buch ganz ordentlich bei Ernest Hemingways Spanienkriegsroman „Wem die Stunde schlägt“ bedient: von der Hauptfigur bis zu den Nebenfiguren und ihren Beziehungen zueinander, von den drei Tagen und drei Nächten, in denen die Handlung spielt, bis zum melodramatischen Ende. So wie Hemingways Robert Jordan am Ende schwer verletzt einen Rückzug deckt und auf seinen Tod wartet, ergeht es auch O’Nans Ortega: Der Überfall auf die Radiostation geht wie erwartet schief und Ortega schleppt sich schwer verwundet, dem Tode nah, aber so ziemlich eins mit sich und der Welt, in ein Baseballstadion.

Etwas eigenartig ist es da schon, dass sich O’Nan in den Staaten wie auch in Europa für dieses Buch hinter einem Pseudonym verstecken muss. Er hätte einfach mal wieder versucht, ein Buch als unbekannter Schriftsteller zu verkaufen, heißt es beim DuMont-Verlag. Dieser, in Deutschland nicht O’Nans Stammverlag, erwarb demnach auch „Ortegas Finale“ angeblich ohne zu wissen, dass hinter dem Buch Stewart O’Nan stecke.

Allerdings zeigt sich bei „Ortegas Finale“ nun auch wieder der Stewart O’Nan, der sein Debüt „Engel im Schnee“ Kurt Cobain widmete und mit „Speed Queen“ eine Mischung aus Roadmovie, land speed record und Stephen-King-Zitat schrieb. Das Buch zeigt den Vielschreiber und „creative-writing“-Lehrer, der nach der Devise verfährt: Die amerikanische Literatur und die amerikanische Popkultur beeinflussen sich nicht nur gegenseitig, sie sind auch unerschöpfliche Reservoire, also bedienen wir uns einfach!

O’Nan selbst hat mal in einem Interview bekannt, „ein Kind des Fernsehzeitalters“ zu sein, beeinflusst von Kino, Fernsehserien, Cartoons und Comics. Was in seinem Alter eigentlich nichts Besonderes ist, doch viele Szenen seiner Romane wirken oft wie Filmstills, und gerne werden im Zusammenhang mit seinen Büchern auch Namen von Filmregisseuren wie Frank Capra, Quentin Tarantino, Oliver Stone oder Steven Spielberg gedroppt. Leicht vorstellbar, dass O’Nan „Wem die Stunde schlägt“ zuerst im Kino gesehen hat (wo die Geschichte genauso gut, wenn nicht gar besser, funktioniert) und sich erst später das Buch zu Gemüte geführt hat. Und genauso leicht vorstellbar, dass O’Nan das Schreiben von „Ortegas Finale“ einfach einen Heidenspaß gemacht hat, gerade in der Popmusik neben dem Geld einer der wesentlichsten Gründe für das Making of Coverversionen

Denn so moralisch und dunkel seine Geschichten mitunter sind, hat O’Nan auch nie was dagegen, wenn sie Fahrt aufnehmen, schnell sind und einfach nur Spaß machen. Und wo „Wem die Stunde schlägt“ mitunter ausladend und langatmig ist, hat O’Nan die Geschichte festgezurrt und kommt mit einigen Rückblenden, aber ohne viel Umschweife auf die für ihn in der Figur von Ortega angelegten Topics wie Schuld und Vergebung.

Darüber hinaus spielt O’Nan aber auch, Pop komm raus, du bist umzingelt, mit dem Leben von Hemingway und sampelt eine nicht unwesentliche Melodie aus dessen Leben. So hat er dem Buch ein Zitat vorangestellt, eine kubanische Beschimpfung: „Erstick an den Knochen deines Vaters“, um dann im Subtext durchgängig die sich in Motels, vor dem Fernseher und in Baseballstadien abspielende Beziehung zwischen Ortega und seinem Vater mitschwingen zu lassen: Dieser setzte sich, „als er wusste, dass aus Jorge ein Mann geworden war“, eines Tages in seinen Fernsehsessel und steckte sich den Lauf eines Revolvers in den Mund. (Erinnert an Hemingway, doch auch dessen Vater wandte sich in seinen letzten Lebensjahren ziemlich barsch von seinem Sohn ab und beging 1928 Selbstmord.)

Bei O’Nan erfährt man am Ende, dass der Vater noch eine Nachricht hinterlassen hatte, auf der „Ich liebe Dich“ stand. Allerdings erkennt Jorge, dass diese nicht für ihn, sondern für seine Mutter bestimmt war: „Sein Vater bat um ihre Vergebung, nicht um seine, als brauche er seine nicht. Jetzt fragte sich Jorge, ob das eigentlich etwas änderte. Wahrscheinlich nicht.“

So wie diese Vater-Sohn-Beziehung sich durch „Ortegas Finale“ zieht und etwas sehr Resignatives hat, könnte sie auch gut in O’Nans dieser Tage ebenfalls erschienenem Kurzgeschichtenband „Die Armee der Superhelden“ stehen. Beide Bücher bilden zusammen eine Klammer seines bislang auf Deutsch veröffentlichten Werks. „Die Armee der Superhelden“ erschien 1993 unter dem Titel „In The Walled City“ in den Staaten, noch vor O’Nans Debütroman, und in diesen zeigt er sich ganz ohne Sperenzchen als der Schriftsteller der amerikanischen Provinz mit dem Faible für die kleinen Leute, den white trash.

Für seine Protagonisten ist in den zwölf Geschichten von „Die Armee der Superhelden“ der viel beschworene amerikanische Traum eine Mär aus einem anderen Leben, wenn sie überhaupt jemals davon gehört haben.

Sie arbeiten auf Müllhalden und schlecht besuchten und ungepflegten Golfplätzen, sie sind Fabrikarbeiter und Busfahrer, Farmer ohne Land und Versteigerer, die selbiges zum Verkauf anbieten. Sie leben nicht in Manhattan oder Hollywood, sondern in New Jersey, Pittsburgh und Kennadaro, und sie haben, wenn O’Nan ihre Geschichten zu erzählen beginnt, die schlimmsten Einschnitte in ihr Leben oft schon hinter sich: den Verlust des Arbeitsplatzes, die Scheidung von der Frau, die Trennung von den Kindern, den Tod des Ehemannes, den Verlust eines Kindes.

O’Nan erzählt kleine Episoden aus ihrem Leben mit Schlagseite, er erzählt, wie sie sich in ihrem Unglück eingerichtet haben und höchstens eine kleine Hoffnung immer wieder durch eine noch kleinere Hoffnung ersetzen müssen. Und er erzählt, was alles nicht passiert – O’Nan deutet oft nur an, setzt Zwischentöne, lässt aus, und gerade auf diesen Leerstellen fügen sich die Geschichten meist zu einem großen Ganzen zusammen. Aus wessen Hemdsärmel O’Nan sich für diese perfekt sitzenden und oft tieftraurigen Kurzgeschichten eine Menge an Stil und Prosa geschüttelt hat, ist nach der Lektüre nicht schwer zu erraten: Ernest Hemingway. Von dem wurde in Deutschland mal eine Kurzgeschichtensammlung mit “Der Sieger geht leer aus“ übertitelt. Bei O’Nan aber gibt es nur Verlierer, die leer ausgehen.

James Coltrane: „Ortegas Finale“. 240 Seiten, DuMont Köln, 39,80 DM Stewart O’Nan: „Die Armee der Superhelden“. 208 Seiten, Rowohlt Paperback, 22 DM