DER VOLKSKONGRESS MUSS NICHT IMMER EIN SCHEINPARLAMENT BLEIBEN
: Chinas trojanisches Pferd

Immer im März, wenn die roten Fahnen über der Großen Halle des Volkes wehen und die Kommunistische Partei ihre Alibi-Parlamentarier zum Nationalen Volkskongress einlädt, meinen westliche Beobachter einem besonders unwürdigen Politikspektakel beizuwohnen. Natürlich haben sie Recht: Zu Hause im reichen Westen läuft das demokratische Prozedere gerechter ab. Und es stimmt auch, dass der nach dem Buchstaben der volksrepublikanischen Verfassung demokratisch organisierte Volkskongress bis heute keinerlei messbaren Einfluss auf die chinesische Politik gehabt hat.

Dennoch: Hohn und Spott sind fehl am Platz. Mit Schaffung der Volkskongresse auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene im Jahr 1949 hatten die Republikgründer unter Mao Tse-tung immerhin eingesehen, dass allein die Parteiorganisationen den Herrschaftsanspruch der KP nicht legetimieren können. Neben der Partei bedurfte der Staat einer eigenen, von der Basis her ersonnenen Organsation. Dass diese Organisation ein halbes Jahrhundert lang unter der Parteidiktatur dahinkümmerte, schließt in der derzeitigen, permanenten Krise des KP-Apparats nicht aus, dass in ihr der Keim für einen demokratischen Neubeginn schlummert.

Zweimal bäumte sich der Nationale Volkskongress in den Neunzigerjahren gegen die Partei auf. Einmal weigerte sich ein Drittel der Abgeordneten, dem aufgrund seiner ökologischen Folgen weithin kritisierten Drei-Schluchten-Staudamm am Yangtse ihre Zustimmung zu geben. Ein anderes Mal musste der Oberste Staatsanwalt im Anschluss an eine Abstimmung zurücktreten, bei der nur zwei Drittel der Abgeordneten seine Mittel zur Bekämpfung der Korruption für ausreichend empfanden.

Bei beiden Abstimmungen, die sich im Volk schnell herumsprachen, spürten viele Chinesen ihr zumindest theoretisches Recht, einer Entscheidung der Partei zu widersprechen. Zudem erlaubt die schlichte Existenz der Volkskongresse den Reformern in der Partei, auf Basis der Verfassung größere Befugnisse für die staatlichen Gremien einzufordern, in denen auch Nicht-Parteimitglieder mitwirken können. Tatsächlich haben Ausschüsse des Volkskongresses – oftmals gestützt von westlichen Beratern – in den vergangenen Jahres bei Gesetzesberatungen eine positive Rolle spielen können.

So könnte dem Nationalen Volkskongress eines Tages die Rolle eines Trojanischen Pferdes zuwachsen, das in einer Krisensituation von der Reformkräften genutzt werden kann, um ohne einen nur schwer legitimierbaren Umsturz jene demokratische Praxis zu erwirken, die im System von 1949 von vornherein mit angelegt war. GEORG BLUME