Sehr lang, ganz tief

Heute lehrt der New Yorker Pianist Eddie Palmieri in der Fabrik die formatierte Salsa Mores  ■ Von Christoph Twickel

Anderthalb Minuten lang dieselbe Pianofigur. 16 Mal in strenger Wiederholung. Eddie Palmieris „Café“, aufgenommen Mitte der Sechziger in New York mit seinem Conjunto La Perfecta, ist wohl der langsamste Son Montuno, der je auf Rille gezogen wurde. Er kriecht förmlich, sechseinhalb Minuten lang. Und an jener Stelle, wo sich das Piano aus dem Solo in den „Montuno“ zurückzuziehen pflegt, um einem Timbales- oder Conga-Solo Platz zu machen, macht der zierliche Puertoriqueño seine Arme tonnenschwer. Anderthalb Minuten lang. Das Zen der Latin Music.

Der Conguero versucht gar nicht erst, dagegen anzustinken. „Ich meine, das musst du dich trauen, dir den Arsch abzuspielen, wenn du einen Pianospieler hinter dir hast, der so einen Montuno hinlegt. Jede Note, als würden seine Finger sich mit jeder Note in die Erde vergraben. Wenn du ein Drummer bist, musst du erst mal so tief kommen wie er.“ Sagt Phil Newsum, New Yorker Perkussionist, unter dem Eindruck eines Palmieri-Konzerts von 1998, kaum 35 Jahre nach besagter Aufnahme.

Schon Palmieris erster Erfolg war ein Angriff der Tiefe auf das Format. Für „Azúcar“ von 1965 waren laut Aufnahmeplan 2:45 Minuten vorgesehen. Es wurden achteinhalb. Die DJs der Latin-Stations spielten es trotzdem rauf und runter, denn der Track war schon ein Hit, bevor er überhaupt auf Platte gepresst werden konnte. „Ich hatte das Stück zur Jahreswende '63/'64 geschrieben“, so der Maestro, „ich spielte es überall in der Stadt, im Palladium, in Brooklyn, und dort hatten es die Schwarzen bereits zum Hit gemacht.“ Es waren die letzten Tage der großen Orquestas, der Tropical Big Bands, die jede Nacht in den Ballsälen des Big Apple im Wechsel gegeneinander antraten. Und sich von den hispanischen, jüdischen und afroamerikanischen Tänzern, aus denen damals das Publikum bestand, zu nie mehr erreichten Höhen hinaufschaukeln ließen. Mit seiner Formation La Perfecta wurde Palmieri, geschult in den Orchestern von Vicentico Valdes, Pete Terrace und Tito Rodriguez, zur letzten Sensation des Palladium. Er durfte den letzten Abend des legendären Latin-Ballrooms bestreiten.

Palmieri sollte „Azúcar“ noch ein weiteres Mal aufnehmen. Die Version seines Projektes Harlem River Drive, live eingespielt im Gefängnis Sing Sing Anfang der Siebziger, machte in elf Minuten einen fast unmerklichen Shift von Salsa in Soul und zurück und führte so die Musik der hispanischen und afroamerikanischen Ghetto-Bewohner zusammen. Eine leicht verspätete Maßnahme gegen die „Boogaloo“-Bewegung, die Mitte der Sechziger den klassischen Conjuntos in den USA das Wasser abgrub und eine partyeske Verbindung von Latin und Soul fand, für die Palmieri nur das Attribut „Kindergarten“ übrig hat.

Wenn es um den Verfall von In-spiration und um die Formatierung von Musik geht, teilt er immer noch gerne aus, der fünffache Grammy-Gewinner, der die klassischen kubanischen Genres mit der gleichen Obsession studiert wie die quartale Harmonie eines McCoy Tyner: „Wir haben eine komplette Tragödie heute: Nicht existierende Orchester spielen das Genre, das uns aufregenden Tanzorchestern gehört. Alle Orchester klingen gleich, die Arrangeure kriegen von den Plattenfirmen gesagt, wie sie schreiben sollen, denn wenn du nicht schreibst, was die Leute kaufen, dann bringst du das Boot zum Wanken, und wir rufen dich nicht mehr an.“ Recht hat er.

Aber sein letztes Album El Rumbero del Piano bringt nicht die versprochene Erlösung. Immerhin ist es ein grundsolides Stück Hard Salsa, schön „crisp“, wie man heute sagt, inklusive einer neuen Version von „Café“. Nicht mehr ganz so schwer wie damals, und den hypnotischen Montuno opfert er dieses Mal den Soli seiner Begleitmusiker. Möge ihnen das traditionsreiche Gebälk der Fabrik heute den nötigen Respekt einflößen, und möge es dem Meister helfen, bei diesem Stück tief in die Tasten zu greifen. Ganz tief.

heute, 21 Uhr, Fabrik