Zwischen Nazis, Goethe und Volkstanz

■ Die 20-jährige brasilianische Schauspielerin Vanessa Lutz arbeitet seit einigen Monaten am Jungen Theater. Ihre Erfahrungen mit Deutschland hat sie nun zu einem Stück verarbeitet, das im April Premiere feiern wird

Du musst verrückt sein, sonst wärst du nicht hier! Sagt die Katze. Und Alice steht da, reibt sich verwundert die Augen. Ihr kommt das alles, nun ja: exotisch vor. Macht das Sinn? Zumindest das mit der „Exotik“ kennt Alice, die eigentlich Vanessa heißt. Im richtigen Leben. Aber was ist das schon, kommen einem doch die Rituale, die den Alltag ausmachen, kaum weniger spleenig vor als das, was Alice hinab, hinab, hinab im Hasenbau erlebt oder hinter den Spiegeln.

Das Nach-Schauen, das Sehen, was sich dahinter verbirgt, gehört zum Leben der 20-jährigen Vanessa Lutz. Darum spielt sie Theater, darum verlies sie für ein Jahr Porto Alegre im Süden Brasiliens. Um Deutschland in Augenschein zu nehmen. Kulturschock? Nicht wirklich. So etwas habe es eigentlich erst gegeben, als sie nach fünf Monaten mit dem Jungen Theater in Kontakt kam. Nicht, weil vieles so fremd, sondern im Gegenteil, so bekannt war. Ist es nicht ein Klischee, als „Ausländerin“ ausgerechnet in einem Anti-Nazi-Stück zu debütieren? Nicht wirklich, denn das Deutschlandbild war von bestechender Spießigkeit. Irgendwo zwischen Goethe und Volkstanz. Ist ja auch nicht ganz falsch.

„Uns ist der Brief aufgefallen, mit dem Vanessa nach einer möglichen Mitarbeit fragte“, sagt Anja Wedig, deren Bernhard-Müller-O-Ton-Sampling „... über alles in der Welt“ Lutz auf die Bremer Bühne hievte. „Ein brasilianisches Model in Deutschland, dazu noch mit beachtlicher Schauspielerfahrung. Da schießen einem natürlich sämtliche Klischees durch den Kopf.“ Etwas exotisch habe man sie sich vorgestellt und eine Diva.

Aber nix war. Vanessa Lutz ist blond, hübsch und angenehm ruhig. Wenigstens im Gespräch. Auf der Bühne sieht das schon anders aus. Zunächst hat sie Regieassis-tenz gemacht. Wedig wollte für die Produktion „normale Leute, keine Staatsschauspieler, die Bernhard rezitieren“. So wurde aus dem 'Mädchen für alles' die Schauspielerin in „... über alles“. Die Person Lutz' führt manches zusammen. Gastfamilie und Theater als deutsche Alltage. Erscheinung und liebenswert gebrochene Aussprache bilden exakt die Bruchlinie der Typisierung des „Ausländischen“ ab. In den Diskussionen mit SchülerInnen sei deren Weltbild gehörig ins Wanken geraten, wenn Lutz, die „ja so gar nicht fremd aussieht“, sich offensiv zu ihrem Nichtdeutschtum bekannte. Eine willkommene Irritation.

Mit „...aber meine Seele ist schwarz“ bringt sie jene Gedanken auf den Punkt, die sie vor ihrem Besuch nie gehabt hat. „Ausländer; diesen Begriff gibt's in Brasilien überhaupt nicht.“ Zugleich betont sie aber, dass das südamerikanische Land auch nicht das Paradies ist. Alles hat immer eins, zwei, drei, ganz viele Seiten. „Aber ich bin wirklich“, sagt Alice.

Anfang April hat eine Bearbeitung von „Alice's Adventures in Wonderland“ Premiere. Vanessa Lutz wird die Hauptrolle spielen. Was zu passen scheint. Lewis Carolls Klassiker ist schließlich auch Spiel mit Sinn und Bedeutung. Nach ihrer Rückkehr habe sie am Goethe-Institut einen Deutschkurs besucht. Auf die Bemerkung, irgendwas sei fett, die eine Vorliebe für HipHop verrät, entgegnete die Lehrerin: „Nein, Vanessa. Fett ist, wenn man zuviel Öl ins Essen tut oder wenn jemand ganz dick ist.“

Anekdoten und Beobachtungen dieser Art finden sich in ihrem Tagebuch, das mit Caroll die Materialgrundlage für das Stück liefert. Ist es nicht komisch, das eigene Leben auf die Bühne zu stellen? „Mich hat die Idee interessiert, Literatur zu konkretisieren. Als ich zurückkam nach Brasilien, war ich nicht mehr ich. Oder ich war es anders. Die Frage nach dem, was ich bin, teile ich, glaube ich, mit Alice.“ Geschichtenerzählen beinhaltet Fragen nach dem Warum und Wieso. Die Alicefigur erkundet Möglichkeiten einer anderen Welt, versucht auch, „sich selber zu verstehen“.

In der Suche nach den verborgenen Gesetzen des Sozialen verwischt „Eigenes“ und „Fremdes“. „Du musst alles ständig neu beweisen, auch dir selbst“. Identität entstehe dann auch ganz woanders. Etwa auf dem Theater, also an dem Ort, wo man immer wieder hinschauen muss. Die Arbeitsweise des Jungen Theaters habe ihr sehr gelegen. Vielleicht auch, weil hier Kommunikation nicht ausschließlich über Sprache funktioniere. „Da haben wir uns gefunden, ein Glücksfall“, ergänzt Wedig.

Wie lange wird die Zusammenarbeit dauern? „Ich spiele Alice bis Ende Mai“, sagt Vanessa Lutz und grinst, „dann werde ich abgeschoben.“ Spielen werde sie auch in Brasilien. Und vielleicht gibt's irgendwann auch in Bremen wieder was von der sympathischen jungen Frau zu sehen. Tim Schomacker

Wer Vanessa Lutz schon vor der April-Premiere ihres Alice-Stücks sehen will, hat in der kommenden Woche Gelegenheit: „...über alles in der Welt“ mit Lutz in einer der Hauptrollen wird vom 13.-16. März (10 u. 12h) in der Schwankhalle gespielt. Karten: 700 141