Das Blöde am Klugen

Nach sechs Tagen wächst die Sehnsucht, aus dem veranstalteten Leben auszubrechen: „Big Brother“, das Leben und der Container. Ein Protokoll

von DETLEF KUHLBRODT

Alle Grundsatzartikel über „Big Brother“ sind vor der Sendung schon erschienen. Man könnte nun Foucaults „Überwachen und Strafen“ zu Hilfe nehmen oder Benjamins Aufsatz über das Ende des Erzählens, mit dem Religionsphilosophen Klaus Heinrich die Erlebnis- und Ereignisfixierung unserer Gesellschaft beklagen, bisschen was über Simulation dazutun, als Bonbon aus den „Briefen der RAF“ zitieren und die immer mehr werdenden Webcams erwähnen, die Leute in ihre Wohnungen stellen, weil sie es aufregend finden, von anderen bei ihrem Leben beobachtet zu werden. Das Blöde am Klugen ist bloß, dass es die eigene Neugier kaum berührt. Diese Neugierde hätte zum Beispiel längst aufgehört, wenn die KandidatInnen ihre Werberollenklischees eins zu eins ausgefüllt hätten. Haben sie aber nicht. So guckt man weiter, jeden Abend, und hofft, das etwas geschieht.

Mittwoch

„Die wird auch 200 Tage schaffen. Die ist so ehrgeizig“, sagt die Mutter der süßen Maus Manu. Alex, der Porschefahrer, lässt sich nackt auf seinem Bock filmen. „Wenn ihm sein Computer fehlt, wird er wohl Leute ansprechen müssen“, sagen die Freunde von Thomas. Kohl wirkt mit seiner Spendensammlerei viel trashiger als die Kandidaten. Liebe Landesmedienanstalt: Greif doch da bitte ein!

Donnerstag

Auf der ersten Seite der Woche wird ein Grundsatzartikel von Otto Schily angekündigt: „Innenminister Otto Schily: ‚Big Brother‘ verletzt die Menschenwürde – Seite 4“. Auf Seite 4 steht: „Die Sendung ‚Big Brother‘ ist ein massiver Verstoß gegen Artikel 1 des Grundgesetzes: Wer sich ein Gefühl für die Würde des Menschen bewahrt hat, sollte die Sendung boykottieren. Zu viel Fernsehen schadet sowieso der Gesundheit.“ Das war der ganze Artikel. Im Internet funktionierte „Big Brother“ nicht. Dafür will einem der Provider oder wie das heißt ständig Cookies reindrücken. Später lügt RTL 2, Hacker wären Schuld gewesen. Zlatko trägt einen schwarzen Stringtanga, bis auf Thomas machen alle Männer Hantelsport, und Manu hat Geburtstag.

Freitag

Bild schreibt: „Ganz Deutschland wettet – Wer schläft zuerst mit wem“. Auf der Titelseite: „Sexpertin Jana“ im sexy Outfit. Das Foto war einer der Joker von Jana, denkt man, und dass sie ihn ziemlich früh eingesetzt hat, und dass sie sicher noch heißere Bilder in petto hat. Dass etwas geschehen könnte, ist der Motor der Sendung, auch wenn jeder weiß, dass RTL 2 keine Schweinereien zeigen wird. Macht auch nix – nach zwei Tagen ist man ohnehin längst virtuell genital mit Hilfe von Janas „asiatischen Liebeskugeln“ und den bunten Präsern, die Alex Manuela hinlegte. Wie findest du denn, dass die schmecken?

Nach kurzem Zögern über die öffentlichkeitswirksamste Strategie gegen den lockeren Gutdrauffi, der im Goa-Sarong fordert, die Arbeitslosen sofort auf Sozialhilfesatz zu setzen, probiert sie mal. Schmeckt nach Gummi. Jana spricht über ihre Brustverkleinerung. Einmal hätte sie dafür zum Psychologen rennen müssen. Dann bezahlte das die Kasse. Zufrieden ist sie trotzdem nicht. Ihr Freund hätte lieber größere Brüste. Andrea auch. Natürlich steigt der Saft im Manne und muss dann auch raus, sagt Zlatko. Despina sieht am besten aus, hielt sich aber zurück. Das hat sie nun davon. Die Kandidaten feiern Karneval und laufen als Polonaise durch ihr Lager. Alle machen mit. Ob die Initiative für die Faschingsfeier vom Sender oder von den Mitspielern ausging, ist nicht zu entscheiden.

Samstag

Anderthalb Minuten zu duschen ist kein Problem. Bei „Big Brother“ leiden die meisten unter Verstopfung. Alex redet superlocker übers Scheißen. Die Männer zeigen sich gerne nackt und würden „es“ prinzipiell auch vor der Kamera machen. Thomas findet, Liebe muss auch dabei sein und spricht von Penissen als „Hörnchen“. Meine Notizen sind etwas unordentlich. Vielleicht war gestern auch heute.

Sonntagnacht

Angeekelt von den „Reklamefratzen“ und mit Schaum vor dem Mund stürmt mein linksradikaler Nachbar ins Zimmer. Am meisten regte ihn auf, dass „diese Reklamefratzen“ keine Ahnung hätten vom Grad ihrer Vergesellschaftung.

In der Wochenzusammenfassung wirkt „Big Brother“ krass opportunistisch. Zlatko, der Macho, hat kein Benehmen. Kirsten sagt: „Ich hasse Zlatko!“ Katrin findet Zlatko dagegen ganz okay. Es ist interessant, über die eigenen notorischen Reflexe nachzudenken. „Big Brother“ – der Talk, wirkt wie eine Mischung aus Sportstudio und Hessen nach der Wahl. Ein Psychologe analysiert die Stimmungslage der KandidatInnen und verteilt Noten für gute und schlechte Eigenschaften. Dominanz ist gut, Sensibilität eher schlecht. „Hat Sie das verblüfft als Astromediziner?“

„Big Brother“ guckt man wie die Fussball-WM, immer mit dem Anspruch auf Vollständigkeit. Wer nur eine Folge geguckt hat, hat kein Rederecht. Nur wer alles guckt, kann die Feinheiten der Spielzüge der KandidatInnen richtig erfassen. Es ist auch ein extremes Amateurtheaterprojekt unter Wahrung der Einheit von Zeit, Raum und Ort.

Wenn „Big Brother“ ein Film und keine Doku-Soap wäre, wären die Rollen von Gut und Böse eindeutig verteilt. Der große Böse wäre der Sender mit seinen ekligen ModeratorInnen. Einer aus der Gruppe – vielleicht auch ein Pärchen – würde kurz vor dem Ziel rebellieren, mit viel trara aussteigen und als Held gefeiert. Das Szenario ist nicht ganz unwahrscheinlich. Die allgemeine Sehnsucht nach einem Leben wie im Film wird ja immer begleitet von dem Wunsch, aus dem veranstalteten Leben auszubrechen. Emanzipieren kann sich nur der, der gegen den Veranstalter rebelliert. Möglich wäre es auch, dass Zlatko eine Geisel nimmt und das doppelte Preisgeld fordert.

Montag

Die Sendung ist in der Krise. Die Quoten sinken, BZ schreibt vom „TV-Knast“, und RTL 2 stellt den KandidatInnen im vorauseilenden Gehorsam ein Zimmer für eine Stunde Rückzug am Tag zur Verfügung. In der Tageszusammenfassung gibt es fast nur Bilder von gestern. Man schwankt doch sehr in der Anteilnahme; ein paar Tage ist man begeistert, dann wieder abgestoßen. Das Normalste wäre eigentlich, wenn sich die Mitspieler zusammentäten, sich gewerkschaftlich organisierten, versuchten, die Spielregeln in ihrem Sinne zu verändern. Sie könnten beschließen, nur noch im Badeanzug zu duschen, einen Tag mal überhaupt nicht zu reden oder nur noch Zigaretten, Alkohol und Süßigkeiten von ihrem Tagegeld zu bestellen und das Preisgeld zu teilen. Möglichkeiten des Widerstands gäbe es genug. Der Ex-Hausbesetzer John sollte dringend ein Plenum einberufen! Komisch, dass man selber so spät darauf kommt.

Dienstag

„Mein größter Wunsch ist es, ein Mikrofon in der Hand zu halten und die ganze Welt muss mir zuhören“, hatte Manu, die süße Maus, am ersten „Big Brother“-Tag gesagt. Warum stellt sie sich denn nicht hin und erzählt der Welt von ihren Träumen? Zwei oder drei Millionen Zuschauer sind doch auch schon was.

flimmern und rauschen, SEITE 17