Wiedersehen mit Gansekow

Wahre Lokale (10): Das „Narkosestübchen“ in Berlin-Schöneberg (revisited)

Die zweite Hälfte seines Lebens verbringt man damit, sich von unerwünschten Freundschaften zu befreien, die man in der ersten geschlossen hat. Das ist zwar gar nicht wahr, aber ich war neununddreißig Jahre alt, müde und erschöpft, als ich Ulrich Gansekow in der Schöneberger Hauptstraße traf. „Michael, ich halt’s nicht aus.“ Gansekow stammte aus einer der letzten katholischen Arbeiterfamilien und hatte die Angewohnheit, jede Bemerkung namentlich einzuleiten. Saß man mit ihm in einem Lokal, ließ der dröhnende Bass sofort jeden im Raum wissen, wie sein Gegenüber hieß. Ich kannte ihn seit mehr als zwanzig Jahren, und so lange schon trug er die Anstecknadel mit dem Teddy am Revers seines taubengrauen Flanellsakkos über dem Tüchlein aus weißer Crepe de Chine.

Gansekow liebte es, wie eine Romanfigur zu reden

„Mensch, Michael. Lass uns ein Frisches trinken. Ich hab doch solchen Durst“. Gansekow liebte es, wie eine Romanfigur zu reden. Und der Durst überzeugte noch dringender, dass es ein unterhaltsamer Abend werden würde. Im geliebten „Felsenkeller“ allerdings wäre heute kein Platz. Vor Jahren waren wir, aus welchem Grund auch immer, zum Rathaus Schöneberg unterwegs, als uns auf der staubigen Belziger Straße ein unscheinbares Schild entgegenstrahlte: „Narkosestübchen“. Seither war ich nicht dort gewesen. Kein schlechtes Lager für heute Abend. Gansekows Blicke gingen zu dem Laub über ihm, meine ruhten auf seinem Profil, als seine Augen sich erinnerten und vor Freude blinkten: „Michael, Narkosestübchen! Au fein. Los geht’s.“

Gansekow wuchtete seinen massigen Körper hinter das Wandtischchen. „Dottore, erst mal gemütlich!“ Der freundliche Wirt trat an den Tisch und begrüßte uns per Handschlag. Jeder neue Gast wurde so in seine Familie aufgenommen.

„Aaah, Michael, Michael“, Gansekow schüttelte den Kopf. „Sechs, sieben Jahre“, breitete er seine Arme aus, als wolle er mich noch einmal in seinem dunklen Reich willkommen heißen und all die verlorenen Jahre liebevoll umfassen, ja gleich wegtragen. Ich ertappte mich dabei, wie ich Gansekow gierig genoss wie ein erlesenes Stück Braukunst, was er ja auch war.

„Michael, damals, Dr. Rohling.“ Vor beinah zwanzig Jahren war ich nach Schöneberg gekommen. Ich zog zu den seltsamen Brüdern Ulrich und Hans-Hermann Gansekow, mit denen ich einige Monate in einer Zweizimmerwohnung ohne Küche und Bad lebte. Das kleine Domizil unterm Dach war nur durch eine Pappwand von einer ehemals hochherrschaftlichen Wohnung abgetrennt. Ein Umstand, aus dem der dubiose Besitzer der weitläufigen Zimmerfluchten, ein circa 45-jähriger Theaterstudent, das Regime eines Hausfürsten ableitete. Dr. Rohling, wie er sich selbst nannte, finanzierte sein Treiben dadurch, dass er die Räume jungen Studentinnen vermietete, die er mit langen Monologen aus Lessings „Emilia Galotti“ über seinen aus dem Unterhemd hervorquellenden Körper hinwegzutäuschen versuchte.

Der Wirt ahnte, dass es nicht anders sein sollte

Atemlos ockerte Gansekow die alten Schnurren weg, und ich tauchte hinab in das „Narkosestübchen“. Ließ die Gedanken schweifen; zu den treudeutschen Flaschenschildern an der Wand; zu der hinter der Theke gerahmten Restaurantkritik eines Feinschmeckermagazins. Unter einer Staubschicht kaum zu lesen war dort: „Das Narkosestübchen ist ein Berliner Lokal, etwa so groß wie ein Eisenbahnabteil. Der Gast findet hier das Brot der frühen Jahre. Alte Männer sitzen vorm Tresen oder an winzigen Tischen, um beim Herrenbier die Welt neu zu ordnen.“

Die Feierabendgäste saßen heute wie angenäht auf ihren Hockern und sogen still Flüssigkeit in sich hinein. „Ich darf draußen keine Stühle aufstellen“, mäkelte der Wirt hinter dem keck mit Rosengebinden verzierten Tresen, der ihm kaum Platz ließ sich zu bewegen. „Ein schöner Frühlingstag. Alle hockt ihr hier drin. Es ist so eng.“ Die Männer nickten, und auch der Wirt ahnte, dass es nicht anders sein sollte.

In den Untiefen seiner Romantik hatte Gansekow seine Namensruferei verloren. Mit dem siebten Bier und Likör kam sie bald zurückgeschwommen: „Michael, es war doch so schön.“

Ich erinnerte mich, wie ich ihn vor Jahren in seiner Wohnung besuchte. Er saß vor dem Fernseher, sein Kopf lehnte an der Wand. Über ihm prangte ein Fettfleck. Er musste kurz zuvor einen Stuhl gegen einen tiefen Sessel ausgetauscht haben, um einen bequemeren Blick auf die Welt zu haben. Plötzlich funkelte ein Lichtstrahl durch das Glas in mein Auge, und alles war klar: Ich liebte seine Räuberpistolen, seine Finten und Tücken. Ich liebte meinen Freund. Eine Art Liebe, wie sie Kinder erleben, ehe sie wissen, was sie bedeutet. Es war so einfach. Wir würden heiraten, auf ewig im paradiesischen Stübchen bleiben, an den Abenden betreut vom umsichtigen Wirt, der das Lebensende mit süßem Likör vorbereitete. Erst der Gedanke, dass all dies nicht sein könnte, ja dürfte, versetzte dem Herzen ein Stich. Oder war es der Pflaumenschnaps? Als das Wasser mir in die Augen schoss, sprang ich auf und flüchtete Richtung Toilette.

Ich öffnete die dritte Tür und stand vor einer Dusche

Früher gingen wir stets gemeinsam „nach Holland“ und freuten uns über die irritierten Rufe des Publikums: „Wie die Mädchen. Ihr müsstet eigentlich nach Deutschland gehen“. D für Damen, H für Herren. Oder war es Ungarn?

Ich gelangte in einen winzigen Flur mit drei Türen, und plötzlich packte mich die Neugier. Ich öffnete die unbeschriftete Tür und stand vor einem Duschkabinett. Eine nackte Frau trocknete sich darin mit einem rotweiß karierten Spültuch den Rücken. Sie sah mich an – und schwieg. Eilig entschuldigte ich mich und schlug die Tür zu.

Am Tisch winkte Gansekow sofort ab: „Ach, die Elfie. Ich bin schuld.“ Schuld? Woran? Dass sie duschte? Und wann hatte er sich die Schuld auf die breiten Schultern gewuchtet? Mit einem Mal wusste ich, wie Gansekow aussah: der junge Rainer Werner Fassbinder.

„Michael, sie duscht wegen mir.“ Hatte ich etwas Entscheidendes verpasst? War ich kurzzeitig bewusstlos gewesen, anästhetisiert vom Stübchenwirt, der Hand in Hand mit dem Freund mich seit Jahren schon hier gefangen hielt? Und wer war Elfie? Gansekows Braut?

„Die Elfie hat’s doch nicht leicht“, begann Gansewig die neue Anekdote in mich hineinzupressen. Aber das ist eine andere Geschichte. Für einen anderen Ort. Über dem die Fahne der Erinnerung weniger träge hängt als der süße Pflaumenschnaps. Narkotisiert stolperte ich aus der Tür und allein die Straße hinab.

MICHAEL RINGEL