Ohne Lobby in die Strafrunde

Von den Schwierigkeiten des 23-jährigen Biathlon-Talents Johannes Blind, außerhalb der Bundeswehr seine sportliche Karriere voranzutreiben und in den Kader des Nationalteams zu laufen

Berufliches Fortkommen? Biathlon ohne Bundeswehr? Das funktioniert nicht. Wenigstens nicht unter professionellen Bedingungen.

aus SüßenERHARD GOLLER

„So wie ich das betrieben habe, würde das heute keiner mehr machen“, schüttelt Johannes Blind den Kopf. Als er 16 Jahre alt war, pflegte er fast jeden Tag nach Feierabend die zehn Kilometer, die sein Trainer entfernt wohnte, zu laufen. Es folgten 40 Kilometer Autofahrt, dann zwei Stunden Training auf Ski-Rollern, dann wieder eine Stunde im Auto nach Hause.

Heute ist Johannes Blind 23 Jahre alt und immer noch Biathlet. Er kommt aus dem schwäbischen Süßen, einem kleinen Ort östlich von Göppingen. Sein Verein, die Skizunft Uhingen, liegt eben jene zehn Kilometer entfernt, die er als Jugendlicher mehrmals wöchentlich, jedem Wetter trotzend, unter seine Füße nahm. Betreuer Dieter Achtert kutschierte ihn auf die Schwäbische Alb, wo es in Römerstein eine asphaltierte Ski-Roller-Schleife gibt. Oder einmal pro Woche auf den Truppenübungsplatz der Bundeswehr in Münsingen. Im Winter fuhr man häufig dem Schnee hinterher, in den Schwarzwald oder ins Allgäu. „Die Abwechslung hat mich gereizt“, gibt Blind Auskunft über seine Motivation für den Wechsel von der Leichtathletik zum Winter-Zweikampf.

Drei Jahre lang absolvierte Blind dieses Programm. Erfolge ließen auf sich warten. Als Junior verfehlte er die WM-Teilnahme nur hauchdünn. 1996 rückte er zur Bundeswehr ein und kam in die Sportfördergruppe „Todtnauer Hütte“ im Schwarzwald. Das erste Jahr glich einer Strafrunde. Der zweite Winter lief schon besser. Der erfolgreiche Biathlet Fritz Fischer war auf das Talent aufmerksam geworden und sorgte für einen dreimonatigen Aufenthalt in Bischofswiesen in der Nähe des Leistungszentrums Ruhpolding. Doch dann blieb sein Versetzungsantrag liegen, weil „Blind keine Fürsprecher hatte“, vermutet der Staffel-Olympia-Sieger Fischer. Die Bundeswehr-Laufbahn des Obergefreiten Blind endete unverhofft im Sommer 1998.

Eine schwierige Situation für den Betreiber einer Sportart, in der Geldgeber erst im Weltcup auftreten. Selbst im Deutschland-Pokal, der dritten, untersten Wettkampf-Liga, wo sich im Herrenbereich knapp 30 Biathleten tummeln, fressen tägliches Training, Regeneration, Wachsen und Waffenpflege so viel Zeit, dass Amateure von vornherein ausgeschlossen sind. So enden viele Karrieren abrupt. Der Bundeswehr-Angehörige Hansi Egger aus Inzell etwa versucht, seine sportliche Laufbahn unbedingt „zu verlängern“. Berufliches Fortkommen? Egger schüttelt den Kopf – Fehlanzeige. Biathlon ohne Bundeswehr? Das funktioniert nicht. Wenigstens nicht unter professionellen Bedingungen.

Und dessen Freund Johannes Blind? „Polizist werden, das muss man wollen. Sonst kann man das bleiben lassen“, sagt der baden-württembergische Landestrainer Steffen Hauswald über die Option, in die Sportgruppe des Bundesgrenzschutzes einzutreten? Der gelernte Modellbauer Blind entschied sich für die letzte mögliche Variante. Er bewarb sich beim Zoll. Doch wieder drehte er eine Strafrunde. Das Finanzministerium verfügte einen Einstellungsstopp, derweil der Kandidat im Deutschland-Pokal fleißig Punkte sammelte und knapp geschlagen immerhin Gesamt-Zweiter wurde.

„Die Zukunft der Sportgruppe ist in Ausarbeitung“, lautet die Auskunft von deren Chef Herbert Mayer aus Mittenwald. Möglich, dass sie aufgelöst wird. Die Entscheidung wird erst im Frühjahr gefällt. Das Talent Blind muss wieder warten und hoffen. Im Moment schiebt er sich mit Doppelstock-Einsatz über die finanzielle Durstrecke. Aber: Die Finanzierung über Kleinsponsoren und einen temporären Nebenjob sind eine allzu wacklige Angelegenheit. „So wohl fühle ich mich nicht dabei“, gibt Blind zu. Andererseits sagt er: „So eng darf man das nicht sehen.“ Immerhin gäbe es ja noch die Unterstützung seines Vereins Uhingen, der ein wenig zu den Wettkampfkosten beiträgt.

Wenn es mit der Stelle beim Zoll nicht klappt, könnten im März die Scheiben für Johannes Blind zum letzten Mal umfallen. „Dann geh ich noch mal auf die Schule“. Ade Biathlon? „Vielleicht probier ich’s dann im Radsport“, sagt der Leidgeprüfte. Vorher will sich Fritz Fischer in Überzeugungsarbeit versuchen. In dessen „Biathlon-Camp“ in Ruhpolding, dem auch Weltmeister Ricco Gross angehört, lebt und trainiert der Schwabe seit einem Jahr.

Trainer Fischer hat bei Blind das Potenzial zum Weltcup-Läufer und den notwendigen „Biss“ erkannt. Zwei Jahre bräuchte der Späteinsteiger jedoch seiner Meinung nach, um Versäumtes nachzuholen und seine zeitweilige „Geistesabwesenheit im Wettkampfstress“ abzulegen. Wenn der Athlet mit dem sonnigen Gemüt und den schnellen Skating-Beinen seine aktuelle Führung im Deutschland-Pokal bis zum Schluss verteidigt, stünde ihm damit immerhin die Tür zum B-Kader und in den Europacup offen.

Das alles aber wäre umsonst, wenn sich die letzte verbliebene Perspektive beim Zoll zerschlagen sollte. „Es würde mir wahnsinnig leid tun“, sagt Fritz Fischer.