Ach, Brandenburg

Vor zehn Jahren begann das Land, die Überreste der DDR-Volksbildung durch ehrgeizige Schulreformen zu verändern. Unter SPD-Bildungsminister Steffen Reiche ist der eingeschlagene Weg endgültig konzeptlosem Lavieren gewichen

„Ach, das wird doch wieder nichts.“ Andrea Krause hebt resigniert die Schultern. Die Brandenburgerin, Mutter eines grundschulpflichtigen Kindes, hat keine Hoffnung mehr, dass die von SPD und CDU im 99er Wahlkampf angekündigte erneute Reform des Brandenburger Bildungssystems gelingt. Vor zweieinhalb Jahren, Tochter Anna ging gerade in die 3. Klasse, zog Krause mit ihrer Familie aus Berlin ins Umland – auch des guten Rufes des Brandenburger Bildungssystems wegen.

Brandenburg war bekannt für seine zu Anfang der 90er-Jahre reformierten Schulen. Marianne Birthler (Bündnis 90), erste Nach-Wende-Bildungsministerin Brandenburgs, hatte neue Wege beschritten. Zum Beispiel führte sie die sechsjährige Grundschule ein, die es Kindern ermöglicht, erst mit 12 Jahren über den weiteren Schul- und Berufsweg zu entscheiden. Krauses fanden das prima: Leben im Grünen – und als Zugabe noch eines der engagiertesten Schulsysteme Deutschlands.

Annas neue Lernstätte aber, wie viele märkische Schulen mangelverwaltet, entsprach nicht Krauses Erwartungen: Im Winter hatten die Kinder kältefrei, weil die altersschwachen Fenster ab 5 Grad unter null ihren Dienst versagten. Anna bekam eine chronische Blasenerkrankung – das Kind weigerte sich einfach, die verdreckte Schultoilette zu benutzen.

Auch sozial war es, gelinde gesagt, eine schwierige Schule. Anna berichtete von Schlägereien und von Lehrern der Hofaufsicht, die trotz bittender Kinder nicht eingreifen. Zur Elternversammlung kamen bei 24 Kindern gerade mal acht Eltern.

Krauses Traum von der reformierten Brandenburger Schule löste sich in nichts auf, als das Land wegen Geldknappheit seine Lehrer neu einstufte. Das arme Flächenland verlangte einen größeren Einsatz von seinen LehrerInnen – und das zum Osttarif von 86 Prozent. Als der Wende-Geburtenknick die Schülerzahlen in den Grundschulen zu dezimieren begann, wurde diskutiert, Schulen zu schließen und LehrerInnen zu entlassen. Die Lehrergewerkschaft GEW handelte mit Bildungsministerin Angelika Peter (SPD) 1999 einen Kompromiss aus: Die LehrerInnen sollten eine Stunde mehr unterrichten ohne Lohnausgleich. Nur so waren die Stellen zu halten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar, dass unter diesen Bedingungen nur jene Pädagogen an Brandenburgs Schulen ausharren, die hier bleiben müssen: ältere Lehrer, die am Schulstandort fest verwurzelt sind.

Von der Idee, im Nach-Wende-Brandenburg einen Dialog zwischen LehrerInnen, Wissenschaftlern, Eltern und dem Bildungsministerium zu entwickeln, blieb nicht viel übrig. Das Wort Reform übersetzt sich in den Köpfen der Pädagogen und Eltern inzwischen mit Übers-Ohr-gehauen-Werden. Neue Lehrer, Kräfte mit modernen pädagogischen Konzepten, kommen nur noch, wenn sie in Berlin – das 100 Prozent Tarif zahlt – gar keine Stelle finden. Oft sind sie wenig später wieder weg.

Im Landtagswahlkampf 1999 wurde Schulbildung ein großes Thema. Die CDU versprach den WählerInnen ein zentrales Abitur – notfalls in Expresszügen, Gymnasien ab der 5. Klasse, Wiedereinführung der Kopfnoten. Balsam auf die Wunden Brandenburger Eltern, die nach Jahren angekündigter und kaum umgesetzter Reformen nur noch das Heil ihrer Kinder im Auge haben – indem sie sie notfalls in die Gymnasien einklagen.

Die Wahl aber bescherte den Brandenburgern den SPD-Bildungsminister Steffen Reiche. Seitdem ist der eingeschlagene Reformkurs endgültig konzeptlosem Lavieren gewichen. Der Minister steht vor der Frage, wie die versprochenen Reformen ohne ein Plus seines Budgets zu realisieren sein sollen. Also verspricht er mal hier und lehnt da strikt ab. Im November verkündet er etwa, die sechsjährige Grundschule werde unbedingt bleiben. Kurz darauf stellt er das Expressabitur in Aussicht, also ein Abitur nach 12 Schuljahren. Das kann aber nur ablegen, wer schon ab der 5. Klasse ein Gymnasium besucht. Ende Dezember 1999 versucht Reiche, Fremdsprachenlehrer mit der Aussicht auf Verbeamtung ins Land zu locken. Dass er damit die Gräben zwischen untertariflich bezahlten Ostlehrern und verbeamteten KollegInnen nur vertiefen würde, scheint ihm nicht bewusst zu sein. Die Brandenburger SPD-Bildungskommission schlägt gleichzeitig Prämien für besonders engagierte LehrerInnen von 100 bis 200 Mark monatlich vor. Nur eine Woche später legt das Bildungsministerium einen Entwurf vor, nach dem eine „Beurteilung des Sozialverhaltens“ ab dem Schuljahr 2000/2001 eingeführt werden soll. Niemand wagt laut das Wort Kopfnoten zu nennen – in alte DDR-Volksbildungszeiten will ja niemand zurückfallen.

Von einem reformorientierten Brandenburger Bildungswesen spricht mittlerweile niemand mehr. Die WählerInnen haben sich vom Gesamtschulmodell verabschiedet. Jetzt heißt es wieder nur: zensurenorientiert lernen und die Kinder mit einem annehmbaren Schulabschluss durch die mangelverwaltete Schule schleusen.

Andrea Krause hat die Konsequenzen gezogen. Ihre Tochter, mittlerweile in der 5. Klasse, besucht eine Grundschule in Randberlin. Dieser Aufwand ist es ihr wert, das Kind vor den planlosen Kapriolen Brandenburger Bildungspolitik zu bewahren.

ANJA MAIER