die jazzkolumne: Kein Jazz ohne Standards – bis heute
BACK TO BASICS
Charles Mingus widmete dem vor 40 Jahren verstorbenen Tenorsaxophonisten Lester Young seine Komposition „Goodbye Pork Pie Hat“, eine der schönsten Bluesballaden des modernen Jazz. Für viele wurde sie zur Brücke, den scherbenreichen Weg entlang der Bebop-Revolution zurück zum Swing zu wagen, zurück zu Youngs Anfängen, seinen allerersten Aufnahmen Mitte der Dreißigerjahre. Die Mingus-Komposition erinnert an den Lester Young, der einen Schweinslederhut trug, und preist seine reduzierten melodischen Linien: Youngs Improvisationen wurden zum Inbegriff musikalischer Coolness.
Joni Mitchell sang den Titel zwanzig Jahre später – noch in den Siebzigern –, nun mit eigenem Text und als Hommage an den zornigen Bassisten und Bandleader Mingus, der bereits im Rollstuhl saß und nicht mehr spielen konnte. Er hatte sich kurz vor seinem Tod noch ein Zusammentreffen mit ihr ausdrücklich gewünscht, und was zunächst als Geburtstagsständchen gedacht war, wurde dann eine ganze Platte – schlicht „Mingus“ betitelt – mit Wayne Shorter und Herbie Hancock, die sie nun auch auf ihrer aktuellen CD „Both Sides Now“ begleiten.
Joni Mitchell wühlt sich sehr seriös durchs Repertoire der Tin Pan Alley, jener sagenumwitterten Straße, wo einst die großen Musikverlage angesiedelt waren, als die populären Songs des Tages noch vor allem in gedruckter Form zum Nachsingen und -spielen vertrieben wurden. „Sometimes I’m happy“ wurde so in den Zwanzigerjahren bereits zu einem Standard, zu einem der Basics des heute als Great American Songbook bekannten Kanons der amerikanischen Popularmusikkultur des zwanzigsten Jahrhunderts. Joni Mitchell singt ihn hier mit großem Orchester, aber trotzdem eher leise und mit einer melancholisch zukunftsgewissen Leichtigkeit, die sich nicht um die Vorgaben einer Billie Holiday schert.
Die Legende von den großen Geschichtenerzählern des Jazz nährt sich aus der Interpretation dieses Materials, so wie es Lester Young vor sechzig Jahren aufnahm. Lester Young prägte – wie später Miles Davis, John Coltrane und Keith Jarrett auch – nicht nur einen ganz spezifischen Umgang mit jenen alltagsmusikalischen Phänomenen, sondern auch den Gebrauch seines Instruments. Und das zu einer Zeit, als auf eine Plattenseite maximal drei Minuten und dreißig Sekunden Musik passten.
Dass das musikalische Ergebnis Jazz genannt wurde, kümmerte die Protagonisten damals nicht besonders, im Gegenteil, es störte sie eher, wenn spürbar wurde, dass mit solcher Kategorisierung auch eine Limitierung von Marktsegmenten einherging.
Charlie Parker soll jeden Ton gekannt haben, den Lester Young je gespielt hat. Youngs große Zeit begann in den Dreißigerjahren, und seine wichtigsten Aufnahmen dieser Zeit finden sich auf dem Mono-Sampler „Lester leaps in“. Der Pianist Oscar Peterson bezeichnet die „Sometimes I'm Happy“-Aufnahme von Lester Young (1943) als wichtigstes Solo der Jazzgeschichte – er hat später Youngs Interpretation als Vorlage für seine eigene Klaviereinspielung des Standards genommen –, und auch der Tenorsaxophonist Sonny Rollins nennt ein weiteres Stück dieser CD eine der wichtigsten Jazzaufnahmen überhaupt: „Afternoon of a Basie-ite“. Basie-ite wurde ein Musiker genannt, der zum inneren Kreis von Count Basie gehörte, der bei vielen Aufnahmen dieser CD Klavier spielte.
Ein anderer Big-Band-Leiter, der Pianist Teddy Wilson, hatte Billie Holiday und Lester Young zusammengebracht und damit, Anfang 1937, eine musikalische Liebesbeziehung angeschoben, von der viele glaubten oder wünschten, dass es sie auch im richtigen Leben gegeben hätte. „This Year's Kisses“ dokumentiert diese erste Session zwischen Holiday und Young, die fast geplatzt wäre, als der Geruch von Haschisch die Studioluft auszudünnen begann.
Young wurde knapp 50. Der Alkohol hatte seinen Körper ausgemergelt, ihm alle Energie und Inspiration genommen, die letzten Aufnahmen, 1959, wurden kürzlich im Rahmen einer 8-CD-Box (Verve) wiederveröffentlicht. Sie zeigen in tragisch-karger Offenheit das sich unmittelbar im verlorenen Sound ankündigende Ende. Ähnlich klang es bei Billie Holiday, als das Heroin von ihren Sinnen Besitz ergriffen hatte.
Die klassischen Trompetenlinien, die Miles Davis in den Fünfzigerjahren spielte, sind deutlich von Lester Youngs Erzählsprache geprägt, und auch von den bedeutenden Musikern der heutigen Szene wird Young immer wieder als Vorbild genannt. Auch im Alltag blieb er der coole Einzelgänger, der nur Wenigen Zugang bot, aber vielen Kollegen wunderschöne Spitznamen verpasste: Aus Billie Holiday machte er Lady Day. Und sie nannte ihn respektvoll Pres – den Präsidenten.
Auch Joni Mitchell ist weit über den engeren Kreis der Singer/Songwriter und Folkaktivisten hinaus zu einer Lady Day der Jahrhundertwende geworden. Je seltener ihre mediale Präsenz in den letzten fünfzehn Jahren, desto größer die ihr zugeschriebenen Wirkungen. Doch sie reagiert auf die ihr in jüngster Zeit verliehenen Auszeichnungen und Lobeshymnen eher skeptisch und zynisch. Sie fühle sich unterbewertet, gibt sie zu Protokoll und wähnt, dass dem Hype der Gehalt fehle. Als sie kürzlich in einem Radio-Interview gefragt wurde, ob sie mit „Both Sides Now“ nun auch auf Jazz machen möchte, nachdem Diana Krall den Zug gerade richtig ins Rollen gebracht hat, war sie irritiert – sagte nur „Mingus“ und lachte. Ein Genre, das gerade ein Prozent des Marktes schaffe, könne doch wohl bestenfalls mit einem lahmen Esel verglichen werden, und den jungen Sängerinnen müsse sie nichts mehr beweisen.
Dank neuer Verträge mit ihrer Plattenfirma Warner darf sie nun auch Coversongs interpretieren und sei nicht mehr darauf festgelegt, ausschließlich eigene Kompositionen singen zu müssen. Mitchell demonstriert intime Kenntnis und Nähe zur Balladentradition des Jazz, eine zukunftsgewandte Sichtung des Repertoires. Sie sagt, dass Miles Davis ihr ganz großer Hero gewesen sei und dass sie sich von der afroamerikanischen Presse gut verstanden fühle, weil sie da in einem Atemzug mit Miles und Santana genannt wird.
Von Mingus persönlich reicht Mitchell weiter, dass ihre Musik ganz laut zu hören ist. Gerade auch an den leisesten Stellen. CHRISTIAN BROECKING
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