Reise durchs weibliche Elend

Zum Frauentag eine Reise durch Hamburg: In einem Bus von Projekt zu Projekt, bei denen Frauen für Frauen Partei ergreifen. „Weiter gehts's – der Bus wartet“  ■ Von Sandra Wilsdorf

Normalerweise fahren in diesem Bus wahrscheinlich grölende Touristen nach Schweden oder Korsika. Gestern fuhr der Bus nur durch Hamburg. Von einem Elend weiblichen Daseins zum nächsten. Denn gestern war Internationaler Frauentag, und der Bus war auf „FIPP-Tour“: „Frauen informieren Politik und Presse“ hat das „Hamburger Frauenprojekttreffen“ die Aktion genannt, bei der sich verschiedenste Frauenprojekte präsentierten.

Der Tag beginnt in Wandsbek bei „Allerleihrauh“ mit Kaffee, Keksen und dem Thema Gewalt. Hier gibt es Beratung bei sexuellem Missbrauch. „Allerleihrauh“ hilft Mädchen ab 13 und Frauen bis 27 Jahren, Müttern, die den Verdacht oder die Gewissheit haben, dass ihre Tochter missbraucht wird, Bezugspersonen von Mädchen und pädagogischen Fachkräften. Sie beraten, wenn es passiert ist, und sie versuchen zu verhindern, dass es dazu kommt: Beratung und Prävention sind die Säulen.

„Amnesty for Women“, die mit Amnesty International nichts weiter als einen Teil des Namens gemein haben, stellen sich und die Problematik von Gewalt gegen Migrantinnen vor. Es geht um Frauen, die den Mann nicht verlassen, der sie verprügelt, weil sie erst nach vier Jahren Ehe einen eigenen Aufenthaltsstatus erhalten. Und es geht um Gesetze, die die Privatheit einer Beziehung immer noch höher achten als das Recht der Frau.

Gudrun Ortmann erzählt von noch mehr Gewalt: Beim „Notruf für vergewaltigte Frauen und Mädchen“ gibt es Beratung, Begleitung zu Polizei und Prozessen und vor allem Gespräche mit den traumatisierten Frauen. Themen für Wochen. „Aber der Bus steht jetzt bereit“, sagt Rose Killinger, Mitarbeiterin des Frauenbildungszentrums „Denk(t)räume“ und Reiseleiterin für einen Tag.

Die Politikerinnen, Journalistinnen, professionellen Frauenhelferinnen, Behördenvertreterinnen und der eine Mann, ein Journalist, nehmen ihre dicken Ordner und steigen in den doppelstöckigen Bus.

Die nächste Station ist gar nicht elend. Es riecht nach Zimt aus dem „Denk(t)räume-Café“ in der Grindelallee. Hier gibt es Bildung nur für Frauen. 11.000 frauenbewegende Bücher, Zeitungen, Kurse, Veranstaltungen. Cindy hat sich hier ihren persönlichen „Denktraum“ erfüllt und Deutsche Gebärdensprache gelernt. Einfach so, weil sie Lust dazu hatte. „Für mich ist eine neue Welt aufgegangen“, sagt sie und bringt den Bustouristinnen ein paar Begriffe bei: Wer sagen will, dass sie deutsch ist, deutet mit den Fingern eine Pickelhaube auf der Stirn an, bei polnischer Heimat deutet sie Armmuskeln an und bei englischer zeichnen die Finger ein Dreieck am Kinn – für die Bobby-Haube. Stoff für einen Nachmittag. Aber: „Der Bus wartet.“

Von Bildung zu Sucht und Ess-Störungen: „Frauenperspektiven“ in Altona kümmert sich um Frauen, die von Alkohol, Medikamenten oder illegalen Drogen abhängig sind. Hier gibt es Überlebenshilfen, Beratung, ambulante Therapie und Beratungsräume, in denen Kerzen flackern und Steine liegen. Rosenquarze, Bergkristalle, Aquamarin, bunt und beruhigend. Jede ist willkommen, egal ob trocken, clean oder nicht. Hier können Frauen eine Therapie beginnen, es aber auch lassen, sie können hier reden, frühstücken, Spritzen tauschen, lesen, sich erholen oder beraten lassen.

„Kajal“ stellt sich vor, ein Präventionsprojekt für Mädchen. Die FIPP-Reisenden erfahren von Mädchen, die vierzehn sind und sich ihren Busen kleiner oder größer machen wollen. Die Drogen nehmen, weil das den Hunger stoppt. Aber der Bus wartet.

Nächstes Ziel ist „BIFF“ in Altona. Psychosoziale Beratung und Information für Frauen. „BIFFs“ gibt es vier in Hamburg, außerdem noch eine Frauenberatungsstelle. Die in Altona hat den Schwerpunkt Psychiatrie. „Frauen, die in der Psychiatrie waren, leben mit einer doppelten Kränkung“, sagt Mitarbeiterin Ulrike Henle-Flamme. Die Krankheit ist schon schlimm genug und wird dazu häufig als stigmatisierend begriffen. „Wir versuchen den Frauen ein Gefühl dafür zu geben, dass sie nicht schuld sind an ihrer Krankheit.“ Oft geben die sich das gegenseitig, indem sie einfach miteinander sprechen. An der Wand hängt die Zeichnung von einer Frau, die im Regen steht: „Was machen Sie? Nichts, ich lasse das Leben auf mich regnen.“

„Wenn noch jemand Fragen hat ... Ansonsten wartet der Bus.“

Drinnen reden wieder alle durcheinander, bilden sich Stammplätze und Sitznachbarschaften. Von psychosozialer Beratung zum Thema Armut. Nächste Station und damit das Ziel ist die „Kemenate“ in Eimsbüttel. Hier können wohungslose Frauen ihre Tage verbingen, sich und ihre Wäsche waschen, reden, kochen, telefonieren oder einfach nur da sein. „Manche kommen jahrelang, und ich weiß von ihnen nicht mehr als den Namen“, erzählt eine Mitarbeiterin. Und sie berichtet davon, dass man wohnungslose Frauen in der Öffentlichkeit fast nie erkennt, „damit schützen die Frauen sich“. Denn die Scham sei so schlimm wie die Einsamkeit, in der die meisten von ihnen lebten.

Und dann gibt es noch die Frauen, die vor ihren Männern in ein Frauenhaus flüchten. Die eine der Telefonnummern wählen, die nicht erkennen lassen, in welchem Stadtteil sie sind, die sich an einem Treffpunkt aufsammeln lassen, und die mit sich und ihren Kindern an einem geheimen Ort leben. Manchmal Tage, manchmal ein Jahr.

Am Ende schlägt Marie-Luise Tolle, Leiterin des Senatsamtes für die Gleichstellung, das die FIPP-Tour finanziell unterstützt hat, noch einen Bogen zu berufstätigen Frauen. Und die Frauen wünschen sich mehr Geld: „Jetzt haben wir Ihnen gezeigt, was es gibt. Das was es nicht gibt, können wir nicht zeigen“, sagt Rose Killinger. Etwa 55 Millionen Mark will die Stadt 2000 für Frauen- und Mädchenprojekte ausgeben. Der Gesamthaushalt beträgt etwa 18 Milliarden.

Draußen wartet kein Bus mehr, die Reise ist zu Ende. Eine Reise zu Orten, an denen Hamburger Frauen ein bißchen Urlaub von ihrem Leben machen können. Eine Reise, die deprimieren könnte, aber froh gemacht hat, weil sie zu Frauen führte, die sich dazu bekennen, parteilich zu sein, bewusst und gewollt parteilich für die Frauen in dieser Stadt.