Sag mir, wo die Ohren sind

Was ist eigentlich aus den Trophäen geworden, die die russischen Soldaten während des Tschetschenienkriegs ihren im ehrlichen Kampf getöteten Gegnern abnahmen?

Als in der vergangenen Woche die plumpen Fälschungen des Lügenmärchensenders „N24“ über Folter und angebliche Massengräber von hingerichteten tschetschenischen Zivilisten ruchbar geworden waren und die Welt erfahren hatte, dass die Bilder lediglich fair im Kampf getötete tschetschenische Kämpfer zeigen, die zum Zweck der besseren Handhabung mit stacheldrahtumwickelten Gliedmaßen verscharrt wurden, da gab man sich allenthalben doch sehr erleichtert über diesen russian way of life und sagte sich erleichtert: Na ja, wenn’s so ist, dann können wir noch einmal durchatmen, alles in Butter, all right. Andere Länder, andere Bestattungsrituale. Für Irritationen sorgte lediglich die Tatsache, dass einigen der Leichen die Ohren fehlten. Das aber sei, versicherte der russische Kremlsprecher Sergej Jastrschembski, keineswegs ein Zeichen für Folterungen, sondern lediglich für die mittlerweile bei den russischen Truppen praktizierte Mode, den „im ehrlichen Kampf getöteten Gegnern“ als Trophäe ein Ohr oder besser gleich alle beide abzuschneiden.

Eine Erklärung, die einleuchtete. Die überzeugte. Und die sämtliche Kommentatoren der westlichen Welt in stummem Neid vor sich hin brüten ließ. Keiner von ihnen verwunderte sich ob dieser in Mode gekommenen Ohr-Abschneider-Methode. Hatte man nicht selber gestern der Kollegin So-und-so ein Ohr ... abgekaut? Und Dem-und-dem sogar ein Ohr ... geliehen? Und Der-und-der gleich das komplette Gehör ... geschenkt? Man hatte. Und siehe, die russischen Soldaten-Kollegen auf ihre gewiss drastische Weise dito. Kein Grund zur Aufregung also. Dazu sind die Ohren da. Schließlich haben sich schon amerikanische GIs im Vietnamkrieg veritable Ohrensammlungen von „im ehrlichen Kampf getöteten Gegnern“ zugelegt und sie am Halsband spazieren getragen. Und hatte nicht der kroatische Ustascha-Führer Ante Pavelić in seinem Arbeitszimmer, wie jedenfalls Curzio Malaparte zu berichten weiß, einen Weidenkorb mit zwanzig Kilo Menschenohren stehen? Nein? Es waren Menschenaugen? Na und? Ist das ein Unterschied? Na bitte!

Die Frage aber, die keiner stellte, und es spricht nicht gerade für eine von moralischen Verwerfungen befreite Menschheit, dass sie sie nicht aufwarf, ist: Wo sind sie geblieben, die Ohren der Tschetschenen? Tragen die russischen Kämpfer sie am Mann, in der Brusttasche ihrer Uniform, um bei passender Gelegenheit mit den blutigen Fetzen zu prahlen? Gibt es Tauschbörsen, wo ein frischer Satz heißer Ohren für ein Paar Fußlappen den Besitzer wechselt? Schicken sie die Ohren nach Hause zum Trocknen über der Ofenbank? Und werden sie, getrocknet und als Schrumpfohren präpariert, auf Basaren feilgeboten? Oder finden sie Eingang in die russische Militärküche, die mit Fleischeinlagen bekanntlich nicht reich gesegnet ist? Werden sie ins westliche Ausland exportiert, wo die Gentechnologie Mäuse aus ihnen züchtet? Über welche Routen läuft der Handel mit Tschetschenen-Ohren? Hat Niki Lauda sich ein passendes Stück zur Transplantation gesichert? Oder hat die EU schon ein Einfuhrverbot für tschetschenisches Ohrenfleisch erlassen?

Fragen über Fragen. Und ziemlich wenig Antworten für so viele Fragen. Genau genommen gar keine. Die Ohren toter Männer sind offenbar tabu, wohingegen die „Ohren“ vulgo Brüste toter Frauen – siehe Lola Ferrari – in der Presse eingehender Betrachtung unterzogen werden. Das ist Feminismus ohne Ohrenmaß und insofern makaber, als in der Welt, in der wir leben, zur Zeit kaum irgendwelche Brüste, sondern tausende Ohren zirkulieren – die toten Ohren von Grosny.

Davon spürt man hierzulande nicht mal einen Hauch / Die Medien schweigen im Walde. / Wartet nur, balde / zirkulieren eure Ohren auch. RAYK WIELAND