Grauen und Bewunderung

Der Leipziger Sport versucht sich am Symbol des vor der Modernisierung stehenden Zentralstadions aufzurichten, denn die Sportstadt hat enormen Nachholbedarf, da zunächst anderes wichtiger war

aus LeipzigMARKUS VÖLKER

Glaubt man den Worten von Thomas Mädler, dann liegt das Dach der Sportwelt in Leipzig ziemlich genau im Zentralstadion. Von den oberen Rängen aus eröffnet sich der Rundblick. Das gesamte Areal des Sportforums lässt sich überschauen. Da sind sie alle auf einem Fleck: der Olympiastützpunkt, das Sportgymnasium, das sagenumwobene Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS), heute umbenannt in Institut für angewandte Trainingswissenschaften (IAT), und da ist die DHfK, die Deutsche Hochschule für Körperkultur und Sport. Kürzel, die eine Gänsehaut hervorrufen, zumal das Ambiente, eine Mixtur aus Bauhaus, Kasernentrakt und stalinistischem Pomp, den Betrachter wie eine Zentrifuge in die Vergangenheit zieht.

Im Zentralstadion rattern ein paar Presslufthämmer. Der Beton bröselt. Gräser wachsen in den Zementnischen. An dem Bau, sagt Mädler, Vorsitzender des Stadtsportbundes, hängt viel Leipziger Herzblut. 1956 wurde aus den Trümmern und dem Schutt der Nachkriegszeit das Oval gebaut. Im neuen Jahrtausend soll aus der Sportbrache ein modernes Fußballstadion werden, dessen Tribünen in die alten Ränge eingepasst werden und das als Arena für die Fußball-WM 2006 taugt, so diese ins Land geholt werden kann. Wenn etwas den Aufschwung der sächsischen Metropole als Sportstadt symbolisieren kann, dann das Zentralstadion. Bis zum Jahr 2002 soll es fertig gestellt sein. 240 Millionen Mark wird es kosten. Mädler kennt die gemischten Gefühle der Besucher des Sportforums, die sich aus einer „Mischung von Grauen und Bewunderung“ formen. DFB-Chef Egidius Braun sei es so ergangen, ebenso Franz Beckenbauer und Georg von Waldenfels, Präsident des Deutschen Tennisbunds.

Auch Mädler betrachtet sein Tun ambivalent. Einerseits wusste er, der im Zuge der Wende für das Neue Forum tätig war, wer die Leute waren, die das FKS und die DHfK im Griff hatten, nämlich „die in den schwarzen Lederjacken“, Stasileute also. Auf der anderen Seite wollte er retten, was zu retten war. „Am Anfang habe ich nur Defensivkämpfe geführt, ich habe nur verteidigt.“ Mehr als zehn Jahre nach der Wende hat ihn diese Verteidigungshaltung den Fürsprechern des DDR-Sports näher gebracht. Er sagt: „Nach der Wende gab es doch nur zwei Prügelknaben: Die Stasi und dann den Sport. Wo man vorurteilsfrei auf DDR-Know-how zurückgegriffen hat, da hat’s doch geklappt.“

Leistungssport in Leipzig hatte sich diskreditiert. Die Nervenzentren des DDR-Sports, FKS und DHfK, wurden aufgrund ideologischer Altlasten abgewickelt. Investoren und Sponsoren ließen die Finger vom Sport in Leipzig, weil sie einen Transfer des Negativ-Images fürchteten. Anderes stand zunächst auf dem Programm: die Belebung als Messestandort; es galt eine intakte Verwaltung aufzubauen, sich als Bach- und Universitätsstadt zu präsentieren. Leipzig – das ist Gewandhaus, Buchmesse und Thomaner-Chor. Dann kommt lange nichts, irgendwann der Sport. „Wir müssen kleinere Brötchen backen“, sagt Mädler. „Das Ausgangsniveau war unser Problem.“

Burkhard Jung, Beigeordneter der Stadt für Sport, ist bescheiden geworden. Er geht nicht mit Fußball- oder Eishockeybundesligisten hausieren, das könnte er gar nicht, er erzählt von den erfolgreichen Flossenschwimmern, den Kanuten, den Florettfechterinnen und dem Turniertanzverein, der zum dritten Mal hintereinander das grüne Band gewonnen hat. Sportliches Aushängeschild sind die Handballfrauen vom HC Leipzig. Sie wurden in der vergangenen Saison Deutscher Meister. Die Fußballer „dümpeln“ (Jung) in der Regionalliga Nordost herum. Doch Jung blickt voraus. Der Neubau des Zentralstadions und einer Mehrzweckhalle schaffe „eine normative Kraft des Faktischen“, die dem marginalisierten Sport endlich den Schwung bringe, den er so dringend braucht. Es sei an der Zeit, dass der Sport nun im Konzept der Stadtplaner an die Reihe komme, sagt Jung, denn jetzt sehe man alles „gelassener und objektiver. 1992 war Sport einfach nicht dran, weil so etwas wie ein Schuldkomplex, ein Stigma da war.“ Der radikale Neuanfang sei nötig gewesen: „Ich verstehe das nicht als Verdrängung, sondern als Bewusstsein, was an Unrecht passiert ist. Das kann man nicht verschweigen, manch einer betont ja immer nur die wunderbare Nachwuchsarbeit der DDR.“ Selbst wenn die Situation zur Zeit nicht rosig ist, gerät der Blick in die Zukunft keineswegs kleinkariert. Der Leipziger an sich kleckert nicht, er klotzt ganz gerne. Mädler sinniert, eine Olympiabewerbung könne zwar noch nicht „qualitativ“, aber in ein paar Jahren doch schon „quantitativ“ bewältigt werden. Jung hat vor allem einen Wunsch: „ein Fußballverein in der Bundesliga“. Mädler ergänzt: „Meinetwegen Roter Stern Leipzig, wenn es nur wahr würde.“