Chruschtschows Badehose

Das Literaturhaus zeigt den Dichter Hans Magnus Enzensberger in einer Ausstellung

Hans Werner Richter wollte es nicht glauben: „Chruschtschows Leibesumfang und der von Hans Magnus lagen mir doch zu weit auseinander“, schrieb er später in seinen Erinnerungen. Und doch. Es scheint zu stimmen: Nikita Chruschtschow hat Hans Magnus Enzensberger zum Sprung ins Schwarze Meer seine Badehose geliehen. In der kleinen Enzensberger-Ausstellung im Literaturhaus in der Fasanenstraße jedenfalls liegt in einer der Vitrinen ein unscheinbares, braunes Papier, ein kurzer Brief, den der junge Dichter 1963 aus der Sowjetunion an seinen Verleger Unseld schrieb: „lieber siegfried, nur ein rascher gruß. ich steige aus dem schwarzen meer wo wir gebadet haben (und kein anderer als nikita sergejewitsch chrustschow hat mir seine badehose geliehen). viel zu erzählen wenn du kommst.“

Die Ausstellung erzählt nicht viel. Sie zeigt nur kleine, schöne, manchmal abseitige, überraschende, neue Lebensschnipsel einer Dichterexistenz. Sie wurde vom Enzensberger-Biografen Jörg Lau ursprünglich für das geräumigere Literaturhaus in München konzipiert. Da war wohl alles etwas übersichtlicher, was man sich in der Fasanenstraße etwas mühsam anhand eines Kleinstführers zusammensuchen muss. Aber wer zusammensucht, der findet ganz wunderbare Dinge und gewinnt am Ende eine Art Überblick über ein ausschweifendes Dichter-, Herausgeber-, Übersetzer-, Revolutionärs- und Enzyklopädistenleben, das weder in einer Ausstellung noch einer ausführlichen Lebensbeschreibung vollkommen zu fassen ist.

Aber eben in Details. Der Tag im Leben des Hans Magnus Enzensberger, an dem ihm der Erste Sekretär der KPdSU seine Badehose lieh, ist ein symptomatischer Tag für das engagiert-ironische, leichtfüßige Luftdichterleben, das hier bebildert wird. Hans Werner Richter hatte es gleich geahnt, als er den jungen Autor im August 1963 in Helsinki zur Abfahrt zum Internationalen Schriftstellertreffen in der Sowjetunion traf. Im „eleganten, damals sehr modischen Pepita-Anzug, ein Weltmann auf einem Abstecher nach Leningrad“, so kam er an. Und weltmännisch, so gab er sich auch zwischen Sartre, Beauvoir, Pasolini, Ehrenburg und all den anderen etablierten Großdichtern der Zeit. Enzensberger brillierte, Enzensberger hielt schön geschmückte Reden, parlierte, debattierte, provozierte und war der Star der Tage. Und schließlich wurde er auch noch als „Organisator und Chef der antifaschistischen Kampfgruppe 47“ gefeiert.

Klar, dass zum Treffen im kleinen Kreis mit Nikita Chruschtschow später Enzensberger und nicht Richter entsandt wurde. Der Jungdichter nutzte das Treffen mit dem Weltpolitiker um sein eigenes kleines Stückchen Entspannungspolitik zu betreiben, plauderte am Strand des Schwarzen Meers über europäische Atombewaffnung, und als eine Biene über den Ersten Sekretät herfiel, hatte Enzensberger das russische Sprichwort parat: „Die Bienen müssen schwärmen, wenn die Ernte gut sein soll.“ Nikita strahlte und forderte den Dichter zu einem spontanen Bad auf. Und da Enzensberger ohne Schwimmbekleidung angereist war, half Chruschtschow auch aus dieser Klemme: „Nehmen Sie meine.“ Enzensberger dankte und schwamm und schrieb die schöne Geschichte in geheimnisvoller Andeutung stolz an seinen Verleger zu Hause. Und dieses Schreiben, aus der Zeit, als die Schriftsteller noch heimlich glaubten, in Wirklichkeit die Welt zu lenken, ist heute also, neben jeder Menge weiterer Lebensdetails aus Enzensbergers Dichterdasein, im Literaturhaus zu besichtigen.

Richters Misstrauen scheint übrigens unbegründet zu sein: Nikita habe extra Gästebadehosen in den unterschiedlichsten Größen besessen, liest man in Laus Biografie.

VOLKER WEIDERMANN

Bis zum 9. April, Mi–Mo 11–19 Uhr, Literaturhaus Berlin, Fasanenstraße 23