Letzter Pass, letztes Servus

München verabschiedet Lothar Matthäus mit Pathos, Herzschmerz und Kitsch – und ganz nebenbei mit der Viertelfinal-Qualifikation in der Champions League durch ein 4:1 gegen Real Madrid

aus München THOMAS BECKER

Es ist vollbracht. Er ist weg. Nie wieder hinterm Absperrgitter stehen und warten. Nie mehr warten, bis Lothar Matthäus aus der Umkleidekabine tritt und zu den Mikros und Kameras kommt, um seine gefürchteten Sprudel-Sätze in die Welt zu setzen. Diese Sätze, die stets so staatstragend rüberkommen sollten, aber doch immer nur nach Stehsatz klangen: gestelzt, unnatürlich. „Ich versuche jetzt, ein neues Abenteuer positiv zu gestalten.“ Kein normaler Mensch redet so.

Kunststück: Matthäus ist ja auch kein normaler Mensch. Dass er zu den Top Five des deutschen Fußballs zählt – unbestritten. Doch im Gegensatz zu den anderen Großen spielte er in einer Zeit, in der es mit dem Spielen auf dem Platz nicht getan war. Fritz Walter oder Uwe Seeler, durch Absperrgitter von den Reportern getrennt – undenkbar. Solo-Pressekonferenz mit Gerd Müller? Puh! Erst Lichtgestalt Franz B. aus M., Ehrenpräsident des Vereins zur Förderung des Allgemeinplatzes in der Sportberichterstattung, erkannte den medialen Wandel und, ja gut, ich sach mal, stellte sich darauf ein.

Dito Lothar M. Folgerichtig fand seine letzte Pressekonferenz nicht vorm Absperrgitter statt, sondern oben im gut ausgeleuchteten Saal, der sonst nur die drögen Statements der Übungsleiter zu hören bekommt. Band ab, Ottmar Hitzfeld: „Ich glaube, es war ein grandioser Abschied. Lothar hat diesen Abend verdient.“ Ein Vortrag, in Duktus und Tonfall eher an die Verlesung der Totenanzeigen gemahnend denn an eine Jubelarie auf einen scheidenden Weltstar. Wunderbar unbekümmert dagegen Mehmet Scholl: „Lothar wird bestimmt mal mein Trainer.“

Und das Abschiedsfest, das der FCB seinem Lothar nach dem 4:1 gegen das chancenlose Real Madrid bereitete mit Feuerwerk und Andrea Bocellis Tränendrücker „Time to say good bye“? Scholl: „Ich bin nicht so sentimental, dass ich so was brauche. Aber nett war’s trotzdem.“

Nett, sagt er. Herzzerreißend dramatisch war das, emotional, aufwühlend, als der Mann mit der Zehn für immer vom Rasen des Olympiastadions verschwand. Das Spiel stand still in dieser historischen 89. Minute. Roberto Carlos wird als der letzte Spieler in die Geschichte eingehen, dem Lothar Matthäus auf dem Platz um den Hals fiel – die paar Spiele in Amiland zählen nun wirklich nicht mehr.

New York. Der Stadion-DJ hatte alle Songs ausgekramt, in denen diese zwei Worte irgendwo auftauchen. Frankie-Boy-if-you-make-it-there natürlich und Udo Jürgens, der noch niemals in NY war, aber schon mit zerrissenen Jeans in San Fran. Das gefiel den 60.000 Fans so gut, dass auch lange nach dem letzten Feuerwerksknaller keiner gehen wollte. So wie Lothar. Der will ja auch nicht. Wie ein Häuflein Elend saß er mit hängenden Schultern in der finalen Pressekonferenz und spulte den Stehsatz runter. „Zu Entscheidungen steht man.“

Es war noch einmal ein echter Matthäus: staatstragend, konsequent. Gläserne Augen habe er gehabt, gibt er zu, schon vor dem Spiel, als alle zum Gratulieren kamen. „Der Franz hat mir so schöne Sachen ins Ohr geflüstert. Und er will mich auch in New York besuchen kommen.“ Ein Drama, der arme Kerl. Muss in die Diaspora, ausgerechnet jetzt, wo sein FC Bayern so gut ist wie seit 25 Jahren nicht mehr. „Ich werde die Zeit dort, wie mir Franz empfohlen hat, genießen.“

Hart waren all diese letzten Male schon: zum letzten Mal Mannschaftsaufstellung, zwischen Elbers 9 und Effenbergs 11, zum letzten Mal einlaufen ins Olympiastadion, ganz hinten, als Letzter aufs Feld, nervös herumtrippelnd wie ein 19-Jähriger. Und dann winken, winken, winken. Letztes Mannschaftsfoto. Ein letzter erster Ballkontakt. Ein letzter zweiter Ballkontakt. Fast hätte er sich während des Spiels dabei „erdabbd“ (Matthäus) und ans letzte Spiel gedacht. So aber eine letzte Ausputzerpartie, souverän die Mittellinie bewacht. Zum letzten Mal mit Fink und Sammy in die Pause gehen. Danach ein letzter Abwehrfehler beim 1:2. Ein letzter misslungener Torschuss – und servus. Ein letzter Blick noch in die Südkurve, wo dieses große rote Herz mit der 10 drauf rumwabert und all die Leintücher hängen: „Vergelt’s Gott, Lothar“, „Komm wieder, wir brauchen dich!“, „Es war uns eine Ehre“ und – das schönste – „Sänk ju, loddar“.

Bayern München: Kahn - Matthäus (89. Andersson) - Linke, Kuffour - Salihamidzic, Fink, Effenberg, Lizarazu - Sergio, Elber (74. Zickler), Scholl (88. Wiesinger)Real Madrid: Casillas - Salgado, Hierro, Karanka (70. Anelka), Roberto Carlos - Geremi (63. McManaman), Helguera, Redondo, Guti - Raúl, Morientes (85. Ivan Campo) Zuschauer: 59.000; Tore: 1:0 Scholl (4.), 2:0 Elber (30.), 2:1 Helguera (69.), 3:1 Zickler (79.), 4:1 Zickler (93.)