Die irgendwie Gestrandeten

Die vierteilige Doku „Wir sind da!“ über Juden in Deutschland nach 1945 ist weniger patzig als ihr Titel, aber nicht nur für philosemitisch angehauchte Gymnasiallehrer interessant (23 Uhr, WDR)

von PHILIPP GESSLER

Anfangs befürchtet man Schlimmes: eine Dokumentation über die Geschichte der Juden im Nachkriegs-Deutschland – kann das gut gehen? Beginnt der Krampf nicht schon damit, dass die Serie von vier einstündigen Sendungen unter dem patzigen Titel „Wir sind da!“ keine religiösen Juden als Zuschauer haben kann, denn sie läuft am Sabbat, Freitagnachts ab 23.00 Uhr? Droht da nicht Bildungsfernsehen für nicht-jüdische, philosemitisch angehauchte Gymnasiallehrer? Gleich zu Beginn der Auftaktfolge („Neuanfang?“) scheinen sich die Befürchtungen zu bestätigen: Ein Mann mit Kippa, wahrscheinlich der Autor der WDR/BR-Co-Produktion, läuft durch einen Friedhof, streicht mit seiner Rechten über Grabplatten, bombardiert den armen Zuschauer zugleich mit seinen persönlichen Ansichten über seine deutsch-jüdische Generation – untermalt von Franz Schuberts Streichquintett in C-Dur ...

Doch der klischeehafte Einstieg trügt. Denn der Autor Richard Chaim Schneider, Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks und spezialisiert auf jüdische Themen, findet selbstkritische, distanzierte Worte zu der weitgehend unbekannten Minderheit, der er selbst angehört: der so genannten zweiten Generation der Juden in Deutschland – jenen Kindern der Holocaust-Überlebenden, die irgendwie in Deutschland gestrandet sind.

Sie stehen, räumt Schneider mit einer Fehleinschätzung auf, nicht in der Tradition der deutsch-jüdischen Blüte vor der Nazizeit, als viele Juden zugleich glühende Patrioten waren und die Gräber ihrer für Deutschland gefallenen Söhne mit Stahlhelm und Eichenlaub schmückten: „Diese Vergangenheit ist nicht die unsere“, sagt Schneider aus dem Off – und die Geschichte des Leidens im KZ auch nicht. Diese Heimatlosigkeit der Juden in Deutschland mit eindrucksvollen Interviewpassagen und Kommentaren einsichtig zu machen, ist eine Stärke der Dokumentation. Deshalb muss die Serie auch mit dem Beitrag über die unmittelbare Nachkriegszeit und die hunderttausenden „Displaced Persons“ in den Besatzungszonen auf deutschem Boden beginnen: Juden, die in den KZ ihre Familien und im Krieg ihr Zuhause verloren hatten und eigentlich nur vorübergehend im Land der Täter bleiben wollten.

Die meisten der heute in Deutschland lebenden Juden sind „DPs“ oder deren Nachkommen. Doch mit der Geburt der ersten Kinder in den (tatsächlich so genannten) „Lagern“ für diese Entwurzelten blieben viele in Deutschland hängen.

In ihrer „Flucht in die Normalität“, die die Doku schlüssig nachzeichnet, trafen sich denn auch die Juden und Nichtjuden der Nachkriegszeit: So wie die meisten Deutschen am liebsten alles vergessen wollten und so taten, als sei nichts gewesen, suchten auch die Juden ein normales Leben, um nicht von den Erinnerungen zerschmettert zu werden. Ein Interview mit zwei ratlosen Brüdern, die sich darüber unterhalten, warum denn der eine nun eigentlich in Deutschland geblieben sei, gehört zu den erhellendsten Sequenzen.

Doch das Niveau dieses ersten Beitrags halten die anderen Doku-Folgen (über die Zeit der Sechzigerjahre, die Juden in der DDR und schließlich im vereinigten Deutschland der Neunziger) nicht immer. Da wirkt vieles eher platt und gehetzt – als wolle die Serie schnell noch dieses Teilthema beleuchten, kurz noch jenen Aspekt zumindest andeuten.

Doch nicht zuletzt manch eindrucksvolle Archivaufnahme – etwa die über die Ausschreitungen beim Antrittsbesuch des ersten bundesdeutschen Botschafters in Tel Aviv – macht einiges wieder wett: Wer ein Faible für seltene Bild- und Tondokumente hat, kommt in dieser Reihe voll auf seine Kosten.

Darüber hinaus faszinieren Schneiders interessante Interviewpartner, unter ihnen der schon vom Tode gezeichnete frühere Zentralratspräsident Ignatz Bubis. In den Gesprächen und Gesichtern der Zeitzeugen spiegelt sich der Horror des Erlebten am deutlichsten. Und geradezu erschütternd ist das bei Benjamin Ferencz, einem Ankläger bei den Nürnberger Prozessen gegen die Nazioberen und Unterhändler bei den geheimen Wiedergutmachungs-Verhandlungen der Fünfzigerjahre: Was man für sechs Millionen Tote verlange, fragt er scheinbar zynisch – um hernach beinahe in Tränen auszubrechen. In solchen Momenten wünscht man sich dann doch viele Zuschauer auch außerhalb der Gymnasiallehrerkreise.

Und für alle religiösen Juden zeigt der Bayerische Rundfunk die Doku ab kommender Woche dann auch montags.

„Wir sind da!“: im WDR immer freitags, 23 Uhr; im BR montags, 22.45 Uhr