Teilweise Monstrum

Sartrianer, Sartrologen, konvertierte Camusianer: Anlässlich des 20. Todestags ist Jean-Paul Sartre in Frankreich wieder rundum im Gespräch

aus Paris DOROTHEA HAHN

Dies sind in Frankreich die Tage der Verehrer und Experten. Sie überschwemmen den Markt mit ihren Büchern, sie füllen seitenlange Dossiers in den Wochenzeitungen und sie diskutieren bis Mitternacht im Fernsehen. Worüber? Über Sartre, Jean-Paul, 1905 geboren und nach seinem Tod am 15. April 1980 von einer 50.000-köpfigen Menschenmenge auf den Pariser Friedhof Montparnasse begleitet. Sein Lebtag hat er die Franzosen in Freunde und Gegner gespalten.

Zwei Jahrzehnte nach seinem Tod ist der Philosoph des Existenzialismus wieder da. Auferstanden nach der Implosion des real existierenden Sozialismus und nach der Jahrtausendwende. Mit Sartres Wiederkehr blühen jene auf, die ihn einmal verehrt haben oder immer noch verehren – die Sartrianer. Jene, die es zu Experten seines Werkes gebracht haben – die Sartrologen. Und jene, die sich jahrzehntelang als „Camusianer“ gegeben haben, also Sartre-Kritiker wie der Schriftsteller, und die passend zum Todestag zu Neo-Sartrianern mutiert sind.

Da Sartre sich zu kaum einem Thema nicht geäußert hat, da er kaum eine seiner eigenen Thesen nicht in Frage gestellt hat, da er kaum ein politisches Thema ausgelassen und da er vom Theater, über den Roman bis zum Essay sämtliche geschriebenen Genres ausprobiert hat, bietet er etwas für jeden Geschmack. Stilistisch wie politisch. Menschlich wie philosophisch.

Sartre und die Frauen ist ein Thema, das alle fasziniert – was auch daran liegen mag, dass seine neuen Exegeten ausnahmslos männlichen Geschlechts sind. Fünf von ihnen trafen sich neulich abends in Paris in einem Fernsehstudio, um über Sartre zu diskutieren. „Er war großzügig“, sagte einer von ihnen. „Ja, er war so großzügig, dass er sich den Frauen schenkte“, führte ein anderer aus der Runde fort, der Philosoph Denis Bertholet, der ein dickes Buch über Sartre geschrieben hat. Ein Dritter wies die Kollegen auf etwas hin, das Männer selten vergessen, wenn sie über die Anziehungskraft von Sartre rätseln: Er war klein (1,57) und er war hässlich.

Sartre und seine politischen Stellungnahmen ist ein anderes beliebtes Thema. „Die Leidenschaft des Irrtums“, schrieb das konservative Wochenblatt Le Point Ende Januar auf sein Titelblatt, um im Inneren genüsslich über Sartres Engagements an der Seite der „Stalinisten“, der „Baader-Meinhof-Bande“, der „Maos“ und der „Befürworter der Klassengewalt“ herzuziehen. Es „war zu einem Teil ein Monstrum“, sagt sein früherer Schüler Michel-Antoine Burnier, der heute öffentlich mit dem politischen Sartre abrechnet, weil er „mit seiner Unterstützung für Ho Chi Minh und für Castro Energien vergeudet hat“. Sartre hat sich „nicht nur geirrt“, verteidigt der Pariser Philosoph Bernard-Henri Lévy, der das dickste Buch lieferte, „Sartre hatte Recht, als er die Unabhängigkeit Algeriens verteidigte, er hatte Recht im Hinblick auf Israel und er hatte Recht in Sachen Frauenbewegung.“ Sartre war sich selbst in seinen Irrtümern treu, da er „eine Philosophie der Tat, der Aktion, der Praxis“ hatte, sagt sein Bewunderer Philippe Petit, und da er gewusst habe, dass Geschichte immer unvollendet sei und „Freiheit sozial und historisch determiniert“.

Zum Thema Sartre und die Literatur gehört sein kompliziertes Verhältnis zu Camus, aber auch sein bewunderungsvolles Spätwerk über Flaubert sowie ein frühes, in deutscher Kriegsgefangenschaft verfasstes Theaterstück. Im Paris von Sartres 20. Todesjahr gibt es jene, die seine Literatur mögen, und jene, die seine Philosophie vorziehen. Den ungeteilten, ganzen Sartre aber machen sich nur wenige seiner heutigen Exegeten zu Eigen. Olivier Wickers beispielsweise hat zwar ein ganzes Buch über Sartre geschrieben, doch sich darin ausschließlich auf dessen Literatur und ihre Entstehungsgeschichten beschränkt.

Der Pariser Philosoph Lévy zieht sich aus der Affäre, indem er einfach die These aufstellt, es habe zwei Sartres gegeben: den „Philosophen der Freiheit“ sowie den „Weggefährten von Kommunismus und Stalinismus“. In seiner 663 Seiten lange Eloge zeigt Lévy zwar deutlich mehr Sympathie für den „Philosophen der Freiheit“. Doch verzeiht er auch dem anderen Sartre seine Fehler: selbst die kommunistischen Sympathien und die revolutionären Ideen. Der 50-jährige Lévy, in jungen Jahren selbst einmal „Mao“, ist heute davon überzeugt, dass sich jene Dinge mit dem vergangenen Jahrhundert erledigt hätten. Lévy, der bislang ein Anti-Sartrianer war und sich selbst auch so nennt, hat jetzt eine Eloge auf den „totalen Intellektuellen Sartre“ vorgelegt. Und sofort steht der Verdacht in den Pariser Salons, dass Lévy sich als neuer Sartre andienen wolle. Wie Sartre ist er Philosoph und pendelt zwischen allen schreibenden Disziplinen (wobei der Exeget sich nebenbei auch noch im Kino versucht hat). Wie Sartre liebt er die Frauen, die Medien und die Aktion. Und wie Sartre hat er sich nicht selten geirrt. Lévy ist in Paris ein umstrittener Mann. Seine spektakulären Reisen zu Leichenhaufen in Bosnien und Algerien und seine häufig leichtfüßigen, aber stets gut vermarkteten Werke nehmen ihm viele übel. Aber sein Sartre-Buch loben auch jene, die ihn „oberflächlich“ finden.

Die Frage, warum Sartre, der für seine Anhänger und Forscher der größte französische Philosoph des 20. Jahrhunderts war und den manche als „letzten Philosophen des 19. Jahrhunderts“ bezeichnen, am Anfang des 21. Jahrhunderts eine Renaissance erlebt, ist damit nur teilweise beantwortet. Sicher gibt es den Effekt des 20. Todestages, dem im Jahr 2005 ein hundertster Geburtstag mit weiteren Veröffentlichungen folgen wird. Sicher wollen sich viele im Licht des berühmten Toten sonnen. Aber im engsten Kreis der Sartrianer, die von dem Wirbel um Sartre ein wenig aufgeschreckt wurden, gibt es auch andere Erklärungsversuche für die neue Sartromanie. „Vielleicht ist es das Ende einer Periode von Desengagement und Misstrauen gegenüber Projekten, die politisch eingreifen wollen“, sagt Philosoph Robert Redeker, der in der von Sartre 1945 gegründeten Zeitschrift Les Temps Modernes arbeitet, „Sartre stellt Fragen, die der Postmodernismus seit Ende der 70er-Jahre an den Rand geschoben hatte.“