Brutale Gewalt hinter Gittern

In Frankreich diskutiert ein Untersuchungsausschuss die Lage in den Knästen

PARIS taz ■ Was hinter den hohen Mauern der gegenwärtig 187 Knäste Frankreichs – mehrere Neubauten sind in Planung – geschieht, war den meisten Citoyens ziemlich egal. Und das, obwohl ihre Republik sich stolz auf die Tradition des Bastillensturms beruft und obwohl gerade in den vergangenen Jahren von mehreren Institutionen – darunter der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das „internationale Gefängnisobservatorium“ – die modernen französischen Haftanstalten wegen menschenrechtswidriger Verhältnisse an den Pranger gestellt worden waren.

Erst als die Chefärztin des größten französischen Gefängnisses, das mitten in Paris liegt und den hübschen Namen „Santé“ – Gesundheit – trägt, im Januar ein Buch über Ratten in den Zellen, über die Vergewaltigungen und über die Selbstmorde hinter Gittern schrieb („Médecin-chef à la prison de la santé“), ging ein Schrei des Entsetzens durch die Öffentlichkeit. Véronique Vasseur wurde zwar von ihren Vorgesetzten der Übertreibung bezichtigt, doch öffneten sie trotzdem die Türen von „Santé“ für eine – auf wenige Journalisten beschränkte – Visite in Zellen, die nach frischer Farbe rochen und picobello sauber waren.

Vasseur, die seit acht Jahren in der „Santé“ Dienst tut, ging durch alle französischen Medien und sorgte so binnen weniger Tage dafür, dass die Nationalversammlung eine parlamentarische Untersuchungskommission einsetzte. Sie soll die Verhältnisse in den Knästen untersuchen und Vorschläge für ihre Verbesserung machen.

Die Entdeckungen, die die Parlamentarier sämtlicher Parteien seither bei ihren Besuchen in Knästen und bei Anhörungen von Experten machen, übersteigen ihre schlimmsten Erwartungen. In den um mindestens 20 Prozent überbelegten Gefängnissen des Landes, mit insgesamt rund 58.000 Inhaftierten (davon knapp 40.000 Verurteilte) haben sich allein im Jahr 1998 118 Gefangene das Leben genommen. 1.006 Gefangene haben dasselbe erfolglos versucht. Im selben Jahr wurden 1.362 Selbstverstümmelungen in den Gefängnissen bekannt.

Nicht registriert, oder nur in seltenen Fällen an die Behörden weitergegeben, wurden die meisten Fälle von sexueller Gewalt in den Haftanstalten, über die viele ehemalige Gefangene berichten. Darunter auch der ehemalige Elf-Chef, der in seiner mehrmonatigen Untersuchungshaft beschreibt, dass er oft „die Schreie von Neuankömmlingen hörte, die in ihren Zellen vergewaltigt wurden“.

Gestern war die junge Frau, die die Affäre ins Rollen gebracht hat, als Expertin vor die parlamentarische Untersuchungskommission geladen. „Die Gefängnisse in Frankreich sind ein Staat im Staat“, sagte sie den Abgeordneten. Sie beschrieb die Hand- und Fußschellen, in denen die „gefährlichen“ Patienten zu ihr gebracht werden, die entwürdigenden Untersuchungen der Gefangenen in Anwesenheit ihres Wärters und die Tatsache, dass jene 30 Prozent der in der „Santé“ Inhaftierten, die keine Aufenthaltspapiere haben, nach ihrer Entlassung nirgendwo mehr weiter behandelt werden, weil „Illegalen“ keine Gesundheitsversorgung zusteht.

„Kommen Sie so oft wie möglich ins Gefängnis“, forderte die Ärztin, der seit dem Erscheinen ihres Buches täglich neue Fallbeispiele über Menschenrechtsverletzungen in französischen Gefängnissen zugeschickt werden, die Parlamentarier auf.

DOROTHEA HAHN