Gott trägt verdammt viel Hüftspeck

■ Wie nicht anders zu erwarten: Die New Model Army waren erstens im Modernes und zweitens ganz grandios und verwandelten außerdem drittens tumbe Rabauken in Heilige

Warum schreibe ich eigentlich noch für diese Zwergenzeitung, jetzt, wo sich herausgestellt hat, dass ich über Voodoo-Kräfte verfüge und mir damit ganz andere Erwerbsmöglichkeiten offenstehen?

Die Sache ist die: Das Modernes war so voll, dass bei jedem Bier mit einer Verlustquote von 20 Prozent durch Rempler gerechnet werden musste. Entsprechend ähnelte die Luft im Saal derjenigen in meiner linken Socke. In der Umbaupause dachte ich: Herr im Himmel, lass das verdammte Dach öffnen – und wurde erhört. Lautlos schoben sich die beiden Holzwände zur Seite.

Justin Sullivan besitzt keine Voodoo-Kräfte. Mitten in seinem Gig rief er: „Los, macht das Dach auf, wir wollen hören, wie Werder da draussen gerade spielt.“ Er wurde nicht erhört. Den Status eines Voodoomeisters kann er also nicht für sich reklamieren. Dafür ist er Zauberer. Innerhalb einer guten Stunde verwandelte er das Publikum; und zwar von tumben Rabauken in wahre Heilige, so ähnlich wie Circe die Menschen in Säue verzauberte – nur umgekehrt.

Das Publikum von NMA ist Fanpublikum, richtig fußballmäßig, egal ob 40-jährige harte Jungs oder 20-jährige collagegirl-artige Mädels (ja, die strömen auch zu den alten Herren). So gab es gleich beim ersten Lied im vorderen Drittel ein wüstes Punk-Geschubse, absolut rippengefährdend. Am Ende aber, bei „Justice“ und dieser „we are old, we are young“-Hymne, durfte man einen Bewegungsstil bewundern, den ich jedenfalls noch niemals auf einem Konzert gesehen habe. Zur Ruhe gekommen, breiteten die Leute immer wieder verzückt ihre Arme aus, als ständen sie kurz vor einer mythischen Erleuchtung. Einer von diesen Gesegneten mit nackten Oberkörpern wandelte mutig über die Schultern des Publikums wie Jesus über das Wasser. In diesem Moment war er Gott. Gott hat übrigens verdammt viel Hüftspeck.

In der Umbaupause finden sich diese Über-Fans im Foyer des Modernes in einem Album mit Fotos früherer Konzerte wieder – „Guck mal, das bin ich“ – und kaufen T-Shirts mit peinlich-pathetischen Sätzen am Rücken. Wie anders, gelassener, war doch die Stimmung vor einem Jahr, als Justin Sullivan mit „Red Sky Coven“ (der Folksektion von NMA mit der Dame Joolz) im bestuhlten, kerzen-erleuchteten Modernes ganz ich-spiel-auch-vor-kleinem-Publikum–demutsvoll Besinnliches zum Besten gab.

Absolut in der Minderheit: die Mauler. „Eigentlich fing der Untergang vor zehn Jahren mit dem „Impurity“-Album an. Ich nenne DIE nur noch Old Model Army.“ – „Aber das neue Eight-Album ist doch ganz raffiniert gemacht.“ In Wahrheit ist NMA natürlich per se gut, weil es grandios ist, wie diese Stimme zwischen Beleidigtsein und Euphorie schwankt. Damit diese Einzigartigkeit nicht unbemerkt bleibt, gab es eine Vorband mit einer dieser Hardrock-Klon-Stimmen. „Caroline's Spine“ machen alles richtig, mehr aber auch nicht. Rührend ist es allerdings schon, diese superjungen Menschen singen zu hören von einer lobotomisierten Drecksgesellschaft, von der großen Liebe für alle Ewigkeit oder, alternativ dazu, vom stolzen Überwinden einer abgekackten Liebe – „happy without you“.

Im Vorfeld des Konzertes gähnten viele trendy Personen (Personen, nicht Persönlichkeiten) bei der Erwähnung von NMA und meinten, man müsse diesen Abend schicklicherweise mit „Fink“ im Magazinkeller verbringen, wenn schon nicht im Stadion für Werder beten. Wie kulturlos.

Es gibt eben mal Klassiker, die sich von keinem Zahn der Zeit beißen lassen: die Bibel, Goethe, Hegel, Peter Handke, Marx und die bekennenden Anti-Amerikaner von New Model Army. Die letzten beiden passen ja auch irgendwie zusammen. bk