Schwerelos aufrecht

Rückenleiden sind eine Zivilisationskrankheit. Die Körperlehre Rolfingwill helfen, sich ohne Anstrengung in der richtigen Balance zu halten

von OLE SCHULZ

Als Bettina Schmidt zum ersten Mal ein Ziepen und Stechen im Rücken spürt, denkt sie sich nichts dabei. Ein Jahr später sind die Schmerzen so unerträglich, dass sie doch einen Arzt aufsucht. Er diagnostiziert einen Bandscheibenschaden und operiert sie kurz darauf. Nach Komplikationen muss sie ein halbes Jahr im Bett verbringen, davon vier Monate im Gips. Trotzdem kann sich Bettina Schmidt kaum mehr bewegen. Am Ende wird sie in Frührente geschickt.

Dass die 54-Jährige so lange gewartet hat, bis sie einem Doktor ihr Leid klagte, ist typisch: Nur die Hälfte der Deutschen sucht bei Kreuzschmerzen einen Arzt auf, hieß es auf dem Schmerzkongress vergangenes Jahr. Jeder muss halt sein eigenes Kreuz tragen, scheint für die meisten die Devise zu lauten. Um den körperlichen und sozialen Anforderungen zu genügen, unterdrücken viele am Anfang ihre Schmerzen. Sind sie aber erst mal chronisch geworden, wird eine erfolgreiche Behandlung umso schwieriger. Zum Schluss fällt vielen Ärzten nur noch eine Bandscheibenoperation ein – auch wenn die keinesfalls immer sinnvoll ist.

Die Körperlehre Rolfing setzt dort an, wo für die meisten das Problem beginnt: bei der Haltung. Die kann zum Beispiel schlecht sein, weil man die Halsmuskulatur wegen Stress ständig anspannt. Die amerikanische Biochemikerin Ida Rolf hatte schon in den 50ern beobachtet, wie sich tief sitzende körperliche und seelische Verletzungen in gedrückter Körperhaltung widerspiegeln. Rolf vermutete, dass die Fehlhaltung das Bindegewebe verhärtet und in Folge auch das muskelumspannende Gewebe, die so genannten Fascien, verkleben und verkürzen, wodurch Wirbelsäule und Skelett geschädigt werden.

Inzwischen haben auch die Schulmediziner erkannt, dass neben physischen Ursachen wie Gelenkverschleiß oder körperlicher Überanstrengung vor allem psychische und soziale Faktoren für Rückenleiden verantwortlich sind. Ein eingeklemmter Nerv oder funktionale Störungen sind dagegen seltener allein die Ursache. Die Bundesarbeitsgemeinschaft chronische Kreuzschmerzen hat eine Therapie entwickelt, bei der Mediziner und Physiotherapeuten die Patienten mit Verhaltensmedizinern und Psychologen gemeinsam behandeln – und nicht nacheinander.

Rolfing zielt dagegen darauf ab, „sich ohne Anstrengung aufgerichtet und gelöst in der Schwerkraft zu bewegen“, fasst der Berliner Rolfer Adjo Zorn die Lehre zusammen. Viele Menschen müssten zu viel Kraft aufwenden, um sich gerade zu halten, weil ihr Körper die Balance verloren hat; etwa weil sie ihren Kopf weit vorschieben. „Wir sind noch keine aufrechten Menschen, sondern erst auf dem Weg dorthin. Unser Ziel ist es, den Menschen so weit zu bringen, dass die Schwerkraft positiv auf ihn einwirkt, dass sie ihn aufrichtet und ihn nicht nach unten zieht“, beschrieb Ida Rolf einst den Anspruch ihrer Theorie.

Bei einer Rolfing-Sitzung guckt sich der Therapeut zunächst einmal sein Gegenüber ganz genau an, um zu erkunden, „was an seiner Haltung und Körpersprache so unveränderlich ist wie seine Handschrift“, sagt Zorn. Menschen mit runden, nach vorn gezogenen Schultern und enger Brust haben nach dem Verständnis der Rolfer oft Schwierigkeiten, sich in Beziehungen abzugrenzen.

Dann formt der Rolfer mit kleinen, spezifischen Bewegungen das Bindegewebe – mal kräftig mit dem Ellenbogen, dann wieder etwas zarter mit den Fingerkuppen. Dem Bindegewebe messen die Rolfer eine überragende Bedeutung bei. Adjo Zorn erklärt das mit dem fragilen menschlichen Körperbau: „Die Wirbelsäule ist ja eigentlich gar keine feste Säule; es gibt kein Skelett, dass von alleine steht. Nur durch Zugspannung wird es aufrecht gehalten. Und dafür sind nicht allein die Muskeln, sondern auch das Bindegewebe zuständig.“ Im Idealfall haben sich die Verspannungen der einzelnen Körperteile nach einer Rolfing-Behandlung von zehn Sitzungen gelöst. Der Patient soll dann nur noch minimale Energie für seine aufrechte Haltung aufwenden müssen.

Wer aber wirklich sein Gleichgewicht finden wolle, sagt Zorn, müsse auch bereit sein, an sich selbst zu arbeiten, ungesunde Lebensgewohnheiten abzulegen und sich regelmäßig zu bewegen. „Ich möchte, dass die Klienten soviel Freude am eigenen Körper haben wie an einem teueren Musikinstrument. Dass sich ihr Körper leicht, anmutig und beweglich anfühlt.“ Dass Rolfing seine Grenzen hat, weiß auch Zorn: Zum einen fehlt bisher der wissenschaftliche Wirksamkeitsnachweis. Daher kommen auch die gesetzlichen Krankenkassen nicht für die Behandlungskosten auf. Weil klinische Studien sehr aufwendig sind, sei nicht zuletzt die Hilfe durch das amerikanische „Rolfing Institute“ nötig, das auch die Qualität der Ausbildung überwache, sagt Zorn. Außerdem reicht eine Rolfing-Serie von zehn Stunden bei schweren, chronischen Rückenleiden häufig nicht aus.

Mit Schmerz-Experten verbindet die Rolfer die Erkenntnis, dass die langwierige, oft erfolglose Suche nach Einzelursachen die Rückenbeschwerden verschlimmern kann. Einige Mediziner empfehlen Entspannungstechniken wie autogenes Training, andere Kraftsport zum Muskelaufbau – eine Methode, die der Rolfer Adjo Zorn in vielen Fällen für falsch hält. „Häufig sind die Rückenmuskeln verspannt oder sogar so aktiv, dass sich das Bindegewebe verhärtet oder verkürzt.“ Für diese Menschen sei Entspannung, Bewegung und Rolfen erheblich geeigneter, so Zorn. Bei akuten Rückenschmerzen sei oft der Verzicht auf Behandlung, aber auch auf Bettruhe das Beste, meint der Schweizer Wissenschaftler Peter Keel. Alltagsaktivitäten müssten schnell wieder aufgenommen werden, um nicht in einen Teufelskreis von Schonverhalten und Angst vor dem Schmerz zu geraten.

Wichtig ist jedenfalls, dass man anhaltende Rückenbeschwerden nicht ignoriert: Denn sind sie chronisch geworden, hat der Schmerzreiz auch eine Art Gedächtnisspur im Nervensystem hinterlassen. Dann kann es passieren, dass die Nervenzellen oft schon harmlose Reize als Schmerzsignal verarbeiten.

Rolfing in Berlin: Dr. Adjo Zorn, Karl-Marx-Allee 71, 10243 Berlin, Tel. 42 78 07 24. Weitere Infos unter Tel. 69 40 94 14 sowie www.rolfing.de.Literatur: Peter Schwind: „Alles im Lot: Rolfing“. München 1985, 12,90 DM