Die Güte des Schmieds

Am Sonntag beginnt die neue Formel-1-Saison. Ferrari gilt als Favorit für den Weltmeistertitel. Das Herz der Rennfamilie aus Maranello ist Jean Todt

Jean Todt ist der Einzige seines Faches, der dem meist aggressiven Geschäftder Formel 1 den rührenden Ausdruckder schlichten Humanität verleiht

Ferrari ist nicht erst während der letzten Saison Dauergesprächsthema unter der Konkurrenz gewesen. Seit Bernie Ecclestone 1995 Michael Schumachers Wechsel von Benetton zum schwarzen Pferd einfädelte, kursiert das Gerücht, der mächtige Mann und der Internationale Automobilverband, die FIA, begünstigten die fünfzig Jahre Formel 1 betreibenden Motorsportler aus Maranello. FIA-Präsident Max Mosley hält mit seiner Sympathie gegenüber den Roten nicht hinterm Berg: „Ferrari hat alle Karten in der Hand, sie müssen sie nur ausspielen.“ Die von der Scuderia Ferrari sind Schumacher, Cheftechniker und „Superhirn“ Ross Brawn und Jean Todt. Wer aber ist Todt?

Todt tangieren Angriffe gewöhnlich nicht. Zumindest zeigt er kaum eine Reaktion. Gewiss, wenn der Zehnzylinder den Geist aufgibt oder die Antriebswelle abzischt, leidet Todt wie sonst niemand. Wer jedoch für Ferrari arbeitet, sieht sich der täglichen Beobachtung durch die italienische Presse ausgesetzt und ist trainiert. Einmal Gott, einmal Depp. Entweder obsiegt der Mythos, oder er steht vor dem Untergang, mit ihm der Hauptverantwortliche. Denn Ferrari bedeutet „passione e potenza“, Leidenschaft und Kraft. Pausenlos Feuer unterm Dach. Lahmt das Pferd, steht das Land Kopf. Bei 500 Millionen Mark, die Mutterkonzern Fiat jährlich spendiert, darf man das erwarten. Die Eminenz Agnelli reckt drohend ihr Haupt. Der ätherische Ferrari-Präsident Luca die Montezemolo, dessen Nerven den Besuch des Rennens nicht vertragen, übt sich lieber in der Beschwörung des „Geistes von Monza“. Todt schmunzelt. Er weiß um die wahre Leistungsfähigkeit des Wagens und verkündet, die „Wettbewerbsfähigkeit“ sei zu verbessern.

Jean Todt wurde so oft zum Teufel gewünscht wie kein anderer der elf Formel-1-Stallbosse. Zwischen ihm, dem Brathendl-Fan, und Schumacher bestehen feste Bande. Als Eddie Irvine 1999 in Abwesenheit des Nummer-eins-Fahrers glücklich zu Spielberg/Österreich triumphierte, „fand es“ der verletzte Champion „eine sehr schöne Geste von Jean Todt, dass er nicht den Siegerpokal entgegengenommen hat, sondern Ross aufs Podium schickte“. Prolet Irvine mochte gleichwohl nicht ruhen und motzte weiter wider „Dampfwalze“ Schumacher und Todt: „Mich hat es nicht interessiert, was Jean Todt früher gesagt hat, also interessiert es mich nicht, was er jetzt sagt.“ Todt, Gentleman Haar um Haar, beteuerte, er hätte keine Probleme mit der Ersatzhoffnung. „Ich mag Irvine trotz seiner Macken“, sprach er ruhig, besuchte Schumacher in Vufflens-le-Château und schenkte dessen Tochter Gina-Maria zu Weihnachten einen Elektroferrari.

„Hat der Schumacher-Unfall Ihr Lebenswerk zerstört?“, fragte die Zeitschrift auto motor und sport. Todt entwaffnend: „Als ich den Unfall in Silverstone am Fernsehen sah, da habe ich an Michaels Schicksal gedacht, nicht an das von Ferrari. Ich werde mich erst wohl fühlen, wenn Michael wieder im Auto sitzt.“

Seit 1996 steuert der unbestritten beste Fahrer der Welt den anfänglich arg bockenden Wagen. Irvine wunderte sich, dass Schumacher im ersten Jahr bei den Roten mit dem unkontrollierbaren Arbeitsgerät dreimal gewann. Der Barcelona-Triumph am 2. Juni bleibt unvergessen. Ab Runde 43 unterm Dampf von nur noch acht Zylindern, pflügte der „Regen-Gott“ (Bild) durch die Wassermassen. Todt, angesichts der wahnwitzigen Pannenserie längst avanciert zum bevorzugten Feind der italienischen Presse, vergoss Tränen. Wer ihn auf dem Siegerpodium herumhüpfen sah, Schumacher herzend, ungestüm umarmend und schier narrisch greinend vor purem Glück, der erkannte eine Güte und Dankbarkeit, die ihresgleichen sucht. Drei Jahre später, der verheerende Silverstone-Unfall vom 11. Juli lag kaum zurück, musste Todt Irvines Taktlosigkeiten („Ich habe Fahrer sterben sehen. Ein Beinbruch ist da nicht so tragisch“) aus Gründen der Firmenräson hinnehmen – „schweigen, schlucken – Irvine fahren lassen“ (Bild). Wie sehr sie ihn wurmten, wurde klar, sobald er offenbarte: „Mir fällt seit Michaels Unfall das Lachen schwerer. Wie soll ich feiern, wenn ich weiß, dass einer meiner Fahrer mit einem Beinbruch im Krankenbett liegt? Ich habe kein selektives Gedächtnis, das mich Silverstone vergessen lässt.“

Todts Leidenschaft lodert im Stillen. Nie würde der Besonnene öffentlich einen Angestellten niedermachen. Irvine soll er wegen dessen wadenbeißerischen Gelabers im Teambus zusammengefaltet haben. Vor Monza verteidigte er ihn und betonte zugleich: „Uns interessiert nicht, was Irvine wo sagt. Er bekommt die volle Unterstützung.“ Basta. Des Chefs Augen leuchten. Die Tiefe der Stirnfalten verrät einiges über seinen Gemütszustand. Der „Napoleon“ der Branche ist tatsächlich ein Edelmann – kein Boxengassen-Beau, kein Sonnenbrillenvertreter, kein burschikoser Champagnerjongleur. Die Berliner Zeitung sieht ihn schon mal „mit Mimosen-Miene, als sei gerade ein Date mit seiner Traumfrau geplatzt“. „Jean Todt ist flott“, flötet die Damenwelt, die den Teddybär gerne liebkoste, besonders bei Siegen, „die richtige Antwort für alle, die uns schon abgeschrieben haben.“

Bisweilen eskaliert die Situation. 1998 zeigt McLaren Ferrari, wo es langgeht. Australien, der Saisonstart – ein einziges Desaster. Ferrari interpretiert das neue Reglement – vierte Rille im Vorderreifen, Limitierung der Wagenbreite auf 180 cm – wenig erfolgreich. Prompt heißt es, die Italiener spionierten. Aerodynamiker Willem Toet will man, bewaffnet mit einer Pocketkamera, in der McLaren-Box gesehen haben. Todt erwidert scharf: „Die da hinten“, er meint Norbert Haug und Co., „haben Paranoia. Paranoia, ja, wissen Sie, was das ist? Verfolgungswahn. Und da gibt es Ärzte dafür, um das zu heilen.“

Nein, bis Todt die Ruhe verliert und seine Generosität ablegt, müssen die Mutmaßungen das übliche Maß der Branche weit übersteigen. Er verschreibt sich Ferrari und sähe lieber lauter „Meisterstücke“ des Zeremonienmeisters Schumacher, der 1999 Imola erobert und während der Hymne dirigiert. Cheftechniker Gianni heult hemmungslos.

Ferrari ist Jean Todt – Strategie, Stil, Grandezza und Gefühl. Nicht selten schaut er außerordentlich ernst drein. „Traurig“ sei Ferrari über das Fehlen der nicht ersetzbaren Nummer eins. „Wer braucht Schumi?“, tönten Italiens Sportblätter. Das Herz der Formel 1, der Diplomat, den der rote Overall in einen nervösen Addict verwandelt, der Lenker, der die elende Debatte über Stallorder locker ignoriert – Jean Todt, „ratlos und trotzig“ (Niki Lauda), ist der Einzige seines Faches, der, angeblich unsportliche Boxenbefehle und Ferrari-Fieber hin oder her, dem meist recht merkwürdig aggressiven Geschäft der Formel 1 den rührenden Ausdruck der schlichten, fraglosen Humanität verleiht. „Seit Michaels Unfall ist unsere Beziehung noch enger geworden. Michael ist zerbrechlich, er braucht jetzt meine Hilfe mehr denn je.“ Für diesen Satz sollte man Jean Todt innig mögen. Mindestens. JÜRGEN ROTH