Der Schattenkanzler

Von RALPH BOLLMANN

Schon wieder war Angela Merkel als Erste da. Gerhard Schröder ist zum Wahlkampf ins Ruhrgebiet gekommen, nach Recklinghausen. Doch schon hat die CDU auch diesen Ortsnamen besetzt. Gerade hat Angela Merkel hier mit einer jener Regionalkonferenzen Station gemacht, die längst als „Angie-Show“ gefeiert wurden. „Recklinghausen“, hatte die WAZ gejubelt, „stand auf dem Sendeplan fast aller TV-Sender.“

Das lässt sich von der SPD-Kundgebung in der örtlichen Mehrzweckhalle nicht behaupten. Aber es ist ja auch nur der Bundeskanzler gekommen – und der macht ganz und gar nicht den Eindruck, als würde er der Konkurrenz das mediale Aufsehen neiden: Im Windschatten der CDU-Affäre ist gut segeln, nachdem das rot-grüne Regierungsschiff in den Stürmen des vergangenen Sommers fast gekentert wäre. Lieber Schattenkanzler als Skandalpolitiker.

Markige Gesten, einfache Worte. Der Macher

Die Recklinghauser Genossen hatte es besonders hart getroffen. In Kreis und Stadt übernahm die CDU bei den Kommunalwahlen im vergangenen Herbst das Ruder – und das im mitgliederstärksten SPD-Unterbezirk der Republik: 15.000 Genossen gibt es im Landkreis Recklinghausen, fast so viele wie in der Bundeshauptstadt. Jetzt sitzt der CDU-Mann Wolfgang Pantförder im Rathaus. Die hiesigen Sozialdemokraten dürften auf Gerhard Schröder nicht gut zu sprechen sein.

Sollte man meinen.

Doch hier wird gejubelt! Und das auch noch bei genau jener Rede, für die sich Gerhard Schröder im vergangenen Jahr noch schmale Lippen und Zornesfalten ansehen konnte. Das fehlte den sozialdemokratischen Stammwählern noch, dass Schröder den kühlen Haushaltskurs seines Finanzministers mit dem Argument rechtfertigte, die Zinszahlungen an die Banken kämen einer „Umverteilung von unten nach oben“ gleich. Da konnten auch ein erhöhtes Kindergeld, Steuersenkungen und die vage Aussicht auf einen Erfolg des Bündnisses für Arbeit nicht versöhnen.

Jetzt zeigt sich: Auf diese Textbausteine kommt es gar nicht an. Spätestens seit dem ökonomisch zweifelhaften, doch medial höchst erfolgreichen Holzmann-Coup ist der Kanzler wieder Macher. Was will er mehr? Die markigen Gesten, die einfachen Worte: Im Vorjahr klang es häufig hohl. Jetzt gehen die Zuhörer wieder mit, wenn Schröder sie an seiner Argumentation teilhaben lässt. „Was muss man tun?“, fragt er, oder: „Was heißt das?“ Im Falle des Sparpakets heißt es, „dass wir nicht aufessen dürfen, wovon morgen und übermorgen unsere Enkelkinder leben müssen“. Ist doch ganz einfach. Und leuchtet ein. Applaus.

Gerhard Schröder wieder ganz viril. Gerhard Schröder, die Ein-Mann-Boygroup. Gerhard Schröder, der nach der Rede dicht von Autogrammjägern umlagert wird. Na also. Später am Abend, beim nächsten Auftritt im westfälischen Hamm, wird eine Gruppe von SchülerInnen in den Backstage-Bereich vorgelassen, um das Idol mit Süßigkeiten und einem selbst gebastelten Kochbuch zu beehren.

So viel Volksnähe war nie.

Das alles hat Schröder vor allem dem CDU-Skandal zu verdanken. Ein bisschen nachgeholfen hat er immerhin selbst, und das nicht nur mit der Holzmann-Aktion. Der Inhalt seiner Reden hat sich nicht verändert, wohl aber hat Schröder Akzente und Signale verschoben: eine Politik der feinen Unterschiede. Längst schwadroniert Schröder nicht mehr, er könne „einen guten Wein von einem schlechten unterscheiden“. Auf der Hannoveraner Computermesse konnte schon des Kanzlers Verlangen nach einer Currywurst die Basis euphorisieren. Und dieser gelungene Coup soll im Gedächtnis bleiben. Beflissen verbreiten nun seine Mitarbeiter, für den Imbiss in Hamm habe sich Schröder statt der üblichen Lachsschnittchen eine Bockwurst gewünscht. Vom echten Proletarier unterscheidet er sich nur dadurch, dass er die zweite Wurst auf dem Teller liegen lässt.

Mit seinem Ruf nach indischen Computerexperten hat sich Schröder, nach monatelangem Abtauchen in den Jungbrunnen der CDU-Affäre, wieder ins Gespräch gebracht. Das Schöne an dem Thema ist, dass es sich so vielseitig verwenden lässt. Für den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel: Schließlich zeichnete CDU-Kandidat Jürgen Rüttgers als „Zukunftsminister“ einst unter Kohl für die Informationstechnologie verantwortlich. Da hilft Rüttgers’ Parole „Kinder statt Inder“ auch nicht mehr weiter: Wenn Deutschland jetzt zum Einwanderungsland wird, suggeriert Schröder, dann ist die CDU daran schuld.

Gerhard Schröder – nun Freund der deutschen Kohle?

In der Mehrzweckhalle zu Recklinghausen ist man da ganz Kanzlers Meinung. Wie Holger Blümel – klassisches SPD-Milieu, Angestellter bei der Kreisverwaltung, Genosse seit zehn Jahren, Zigarette in der einen, Bier in der anderen Hand. „Meine Tochter ist elf, ich habe ihr letzte Woche einen Computer gekauft“, sagt Blümel, in der Tasche einen Fotoapparat, damit er den Kanzler auch mit nach Hause nehmen kann. Über die Affären bei CDU und SPD kann er sich furchtbar aufregen. „Wenn Sie wüssten, was in den Sportvereinen so geredet wird“, raunt er. „Wenn es einen deutschen Haider gebe, würden sie ihn alle wählen.“ Für die Zwischenzeit bedient Schröder das Bedürfnis nach einem starken Mann ganz gut.

Hier ist Nordrhein-Westfalen, und auch die Bergarbeiter haben sich auf den Besuch des Modernisierers vorbereitet. „Recklinghäuser Bergleute grüßen Gerhard und Wolfgang, die Freunde der deutschen Kohle“, haben die Kumpel auf ein Transparent geschrieben. Was für ein Gruß. Doch auch diese Botschaft ist beim Kanzler angekommen, und sie liefert den Agenturen das einzige Schröder-Zitat des Tages. „Der Steinkohlenbergbau hat auch nach 2005 noch eine Zukunft“, ruft er den Bergarbeitern zu, „lassen Sie sich nicht einreden, das sei von gestern.“

Nicht anders als Ministerpräsident Wolfgang Clement sucht der Kanzler solche Widersprüche in der Formel vom „Energieland“ Nordrhein-Westfalen aufzuheben. Dazu gehören dann eben auch jene Windräder, die Schröder und Clement am Nachmittag auf der Frimmersdorfer Höhe bei Grevenbroich eingeweiht haben. Und in Hamm haben die örtlichen Sozialdemokraten für die Schröder-Rede eine Halle auf einer schick hergerichteten Industriebrache organisiert, die jetzt „Öko-Zentrum“ ist.

Ohnehin scheint Schröder die Dialektik entdeckt zu haben

Ohnehin scheint es, als habe Schröder die Dialektik entdeckt. Alle Gegensätze heben sich in einem diffusen Begriff von Modernisierung auf. „Wirtschaftliche Kraft“ und „sozialen Anstand“ gleichermaßen verspricht er der Nation fürs nächste Jahrzehnt. Am deutlichsten wird dieser Spagat bei der Steuerreform. Hatte die Koalition anfangs die Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen ins Blickfeld gerückt, geht der Kanzler jetzt auch mit der Senkung der Unternehmenssteuern hausieren – wenn auch populistisch aufgepeppt: „Denjenigen, die ihr Geld nach Luxemburg und Liechtenstein tragen, wollen wir die Brücken sprengen.“

An die CDU-Affäre erinnert Schröder mit ausgesuchter Beiläufigkeit. Allzu heftige Attacken? Lieber nicht, das könnte die Aura der neu gewonnenen Stärke nur trüben. Es genügt, wenn Schröder über das Sparpaket redet und ganz nebenbei erklärt, wie viel Geld eine Milliarde Mark sind: „Wenn der Schreiber dem Schäuble jeden Tag 100.000 Mark gäbe, dann müsste er ihn 30 Jahre lang jeden Tag besuchen.“

Über den roten Düsseldorfer Filz verliert Schröder im Wahlkampf kein Wort. Vorsprung durch Schweigen. Im Auftrag der SPD haben die Demoskopen ermittelt, dass 81 Prozent der Wähler ihre Entscheidung am 14. Mai nicht von der „Flugaffäre“ abhängig machen wollen. In der letzten Umfrage liegt die SPD bei 47 Prozent, 85 Prozent glauben an einen Sieg der Sozialdemokraten. Na bitte, geht doch.

Und solange die CDU mit sich selbst beschäftigt ist, wird es weitergehen, wird der sozialdemokratische Höhenflug anhalten. Im Windschatten eben. Wenn Schröder heute nachmittag auf dem Parteitag spricht, wird schon wieder ein Christdemokrat die Schlagzeilen beherrschen. Wenn „der Kanzler kommt“, werden auch in Bochum die meisten Leute an den einen denken.

An Helmut Kohl.