Der Osten bleibt am Tropf

Erst am 1. Januar 2004 endet der Solidarpakt I. Aber schon jetzt werden die Grundlagen des Solidarpaktes II geschaffen

aus DresdenNICK REIMER

Vielleicht liegt es ja am Namen. Exakt zehn Jahre ist es her, dass Lothar de Maizière sich anschickte, wichtigster Mann in Deutschlands Osten zu werden. Heute fällt diese Rolle seinem Vetter Thomas zu. Von dessen Arbeit hängt ab, wie viel Geld die ostdeutschen Länder nach Ablauf des Solidarpaktes im Jahre 2004 vom Bund bekommen. Thomas de Maizière bastelt an den Grundlagen eines Solidarpaktes II.

Erster Teil der Kärrnerarbeit: Er muss deutlich machen, über welches Geld eigentlich gesprochen wird.

Nach Untersuchungen des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) flossen 1998 insgesamt 189 Milliarden Mark von West nach Ost. Bleiben nach Abzug der Steuer 140 Milliarden netto, was etwa 30 Prozent des gesamtdeutschen Etats entsprach. „Renten, Sozialversicherung, Arbeitslosengeld – die Hälfte der Summe geht in den Sozialsektor“, erklärt de Maizière. Keine spezifischen Ostleistungen also, denn Niedersachsen bekommt dieses Geld ja auch ganz selbstverständlich überwiesen. Macht 70 Milliarden. Kindergeld, Zuschüsse für die Bundeswehr, Kriegsopferversorgung oder etwa das Wohngeld – zieht man davon die allen Ländern zustehenden Leistungen des Bundes ab, bleiben 40 Milliarden übrig. „Das“, sagt de Maizière und trommelt mit dem Finger auf dem Tisch, „ist der Umfang an jährlichen Sonderleistungen Ost, über die wir sprechen.“

Wie berechne ich denSoli-Beitrag der Westdeutschen?

Teil eins der Kärrnerarbeit klingt simpel. Ist er aber nicht. „Der Betrag von 40 Milliarden ist umstritten. Bewertungsfragen spielen eine große Rolle“, sagt de Maizière. Ist etwa die hohe Frauenarbeitslosigkeit im Osten – und damit das notwendige Mehr an Arbeitslosengeld – ostspezifisch? Einige Fachleute sagen: Natürlich! Der Drang, arbeiten zu wollen, sei bei den Westfrauen weit weniger ausgeprägt – ein Ostspezifikum also. „Von den jährlich 40 Milliarden“, de Maizière belässt es bei dieser Zahl, „sind lediglich 25 Milliarden aufbauwirksam.“ Der Rest diene dazu, die sozialen Folgen der Einheit zu mildern.

25 Milliarden also. Zieht man die Mittel des Bundesverkehrsministers und die für so genannte „Gemeinschaftsausgaben“ ab, bleiben 20 Milliarden übrig. „Jetzt sind wir beim Solidarpakt angelangt.“ 20 Milliarden pro Jahr – so teuer ist die Solidarität der Westdeutschen, die 2004 ausläuft.

„Anfang der 90er-Jahre ist nicht untersucht worden, wie viel Geld für den Aufbau Ost wirklich gebraucht wird“, sagt Thomas de Maizière. Damals sei schlicht allen klar gewesen: Sehr viel Geld ist notwendig . Heute steht die Frage anders. Die kurze Einigungseuphorie ist längst verflogen, knappe Kassen bestimmen den Verteilungskampf.

Teil zwei der Kärrnerarbeit deshalb: De Maiziére muss plausible Zahlen über den Nachholbedarf des Ostens zusammentragen.

Woran macht man den aber fest? Am Bruttoinlandsprodukt? Am Wirtschaftswachsum? Am persönlichen Einkommen? Der Zahl von Autobahnkilometern je Einwohner?

In der letzten Woche erreichten Thomas de Maizière die ersten Untersuchungen von insgesamt fünf Wirtschaftsinstituten, die helfen sollen, Daten zu objektivieren. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) untersuchte etwa, wie sich ein Einfrieren der Solidartransfers von West nach Ost nach 2004 auswirken würde. Wie erwartet zeigt die Wirtschaftskurve zuerst steil nach unten. Nach vier bis fünf Jahren allerdings hätte sie das 2004er Niveau wieder erreicht. Voraussetzung: Alle Parameter – Arbeitsmarkt, Wirtschaftswachstum, Investitionsvolumen, Einkommensentwicklung etc. – verhalten sich tatsächlich so, wie das Modell annimmt – und da hat de Maizière seine Zweifel. Unklar sei nämlich; wie das gesellschaftliche System auf die solche Kürzungen reagiert.

Wie berechne ichden Soli-Bedarf der Ostdeutschen?

Verkehrsstruktur, Schulausstattung, Trinkwasseranschlüsse – das Essener RWI Institut analysiert die Infrastruktur in Ost und West. 30 bis 40 Prozent wird nach Erkenntnissen der Essener 2004 die „Strukturlücke“ betragen.

Das DIW durchleuchtete, wie sich das bisher transferierte Geld im Osten ausgewirkt hat. Vereinfacht lautet die Modellrechnung: Der Ist-Zustand von 1990 plus x Milliarden entspricht dann einem gewissen Prozentsatz vom Standard West. Doch wie den Ausgangswert von 1990 schätzen? War der Lebensstandard am Ende DDR bei 65 Prozent des Westdeutschen? Oder bloß bei 20?

Zwei weitere Institute – das Ifo München und das Institut für ländliche Strukturforschung in Frankfurt – befassen sich „mit dem Erbsen zählen“, wie es de Maizière nennt. Um einen direkten Vergleich zu bekommen, werden in bestimmten Modellgebieten in Ost und West Straßen gezählt, deren Qualität eingeschätzt, die Verkehrsdichte bestimmt, das System der Abwasserentsorgung genauso wie die Ausstattung der Krankenhäuser bilanziert. Daraus ergibt sich ein durchschnittlicher Standard Ost und West – und eine Differenz.

Mitttels solcherart zusammengetragener Daten wollen die ostdeutschen Länder nachweisen, dass sie auf den Tropf aus Deutschlands Westen angewiesen sind. Am 29. März treffen sich die ostdeutschen Regierungschefs, um über de Maizières Arbeit zu beraten und ihre Verhandlungsposition abzustimmen.

De Maizière grübelt indes schon am dritter Teil seiner Aufgabe. Es geht um den „Instrumentenkasten“ – also die Methoden, Kanäle und Praktiken, mit denen die westdeutsche Hilfe an Ostdeutschland ausgezahlt wird. So viel nämlich ist klar: Westdeutschland wird nur zu weiteren Zahlungen bereit sein, wenn die Geberländer die Sicherheit haben, dass ihr Geld auch sinnvoll angelegt ist. Und daran gab es in der Vergangenheit immer wieder Zweifel.