Im Haus der Lügen

Apokalyptisch, pathologisch, todernst, rar: Martin Kusejs „Gespenstersonate“ im Thalia  ■ Von Ralf Poerschke

Bevor der Regisseur anfängt, die ersten Töne seiner ganz eigenen Gespenstersonate zu spielen, hat er die Voraussetzungen verändert. Die Perspektive: um 180 Grad geschwenkt. Die Zuschauer blicken heraus aus dem, die Figuren hinein das Haus, das dem „Jungen Mann“ dort draußen auf der Straße so begehrenswert schön und luxuriös dünkt, mitsamt der „Jungen Frau“, die er hier drinnen erspäht hat. Dabei ist es eine Irrenanstalt, ein Gefängnis, eine Leichenhalle; die Bewohner schimmeln schuldbeladen dem vermeintlich erlösenden Tod entgegen, der sich hartnäckig weigert, einzutreten. Es ist die Hölle. Respektive ist es ja in Martin Ku-sejs Inszenierungsanordnung viel schlimmer: Es ist die Vorhölle als Vorzimmer des Theaters, in dem wir sitzen, neulich in Klagenfurt, nun im Thalia, ein bis zur Kenntlichkeit entstellender Zerrspiegel unserer Welt, und plötzlich ist der Regisseur wieder so nahe bei Strindberg, dass es einen ernsthaft gruselt.

Um dort heute hinzugelangen, unter die Haut des Autors und zwischen seine Gehirnwindungen, musste Kusej viel Strindbergschen Dialogmüll aus dem Stück kehren, Textpassagen völlig neu montieren, markante Stellen gebetsmühlenartig wiederholen und soviel Text hinzuerfinden, dass seine Firmierung als Ko-Autor auf dem Programmheft mehr als gerechtfertigt erscheint – ebenso wie das Bombensymbol hinter dem Titel „Gespenstersonate“. Denn Kusej weiß, dass solche Häuser der Lüge nicht von allein einstürzen: Solche Altbauten – Meldungen aus dem Bereich der Politik bestätigen das zurzeit beinahe täglich – gehören gesprengt, in die Luft gejagt und pulverisiert. So radikal darf (und muss wohl) Theater noch und wieder sein.

Zumindest wenn das bühnenästhetische Programm so überzeugend durchkomponiert ist wie bei Martin Kusej. Nach der wie aus weiter Ferne erlebten Straßenszene – die Schauspieler waren nur von der Hüfte aufwärts zu sehen, ihre Stimmen durch Fensterglas gedämpft – ist das Verlangen des Zuschauers nach Unmittelbarkeit hinlänglich geschürt. Und dann kommt es ganz dicke: Die grün leuchtenden Notausgangslampen über den Saaltüren verlöschen, totale Finsternis fasst das Publikum an (hilfloses Kichern und Tuscheln, Feuerzeuge flackern protestierend auf, ein einsamer „Licht an!“-Ruf). Währenddessen stellt sich die feine Gespenstergesellschaft schon mal namentlich vor – und ist sogleich in grellstem Neonlicht und morbides-ter Totlebendigkeit prächtig angestaubt präsentiert.

„Der Alte“ (Peter Roggisch), der kam, um hier „das Unkraut auszujäten“ (und doch selbst ein vampi-ristischer Wucherer und Mörder ist), hat schon bald keine weiße Weste mehr – mit Blutsuppe wird sie besudelt. Die Speise des Abends aber sind trockene Kekse, die der Kammerdiener Bengtsson (Peter Maertens) dem reglosen, pittoresk in diesem ärmlichen Salon drapierten Zombiepersonal mal auf die Zunge legt, mal vor die Füße wirft. Dann laufen sie zum Tee, dann hämmern sie mit den Köpfen gegen die Wände, dann fliehen sie vom mit Illustrierten zugeschütteten Fußboden auf Tische, Fensterbänke und Gerüste. Doch meistens ist es still und stumm. Es ist der Horror. Und wenn aus dieser Grabesstimmung heraus vollkommen unvermittelt eine Party anhebt mit aktueller Popmusik („Burning Down The House“, „My Loneliness Is Killing Me“), einer Funken sprühenden Torte und knallenden Sektkorken, ist die Ausgelassenheit ganz und ausschließlich auf Seiten der Akteure. Martin Kusejs rigorose Regie setzt mit unverminderter Härte auf düstersten Todesernst.

Den Schauspielern verlangt er vor allem Disziplin im Halten von kruden Positionen und Grimassen ab. Einigen jedoch wesentlich mehr: Elisabeth Schwarz ist „Die Mumie“, die den grotesken Tonfall der Papageien auf beklemmend perfekte Weise beherrscht, um alsbald in den Weiheton einer grausamen Prophetin zu fallen. Und Hildegard Schmahl: Ihre Köchin, (un-)heimliche Herrscherin des Hauses, ist tatsächlich „das einzig Wirkliche“ bei diesem Geisterbankett, autoritär durch enorme, sehr fleischliche Präsenz und unbedingt gewalttätig. Andreas Schlager als „Junger Mann“ mutiert auf der Suche nach Liebe – vergiftet von den Verhältnissen – vom Idealisten zum Triebtäter. Die Affäre mit der angehimmelten „Jungen Frau“ (Karoline Eichhorn), uneheliche Tochter des „Alten“, erschöpft sich in einem Koitus von Weitem, einem kurzen stürmischen Kuss – und zwei handfesten Vergewaltigungen.

Im dritten Bild, dem letzten dieses apokalytischen Triptychons, sitzen die beiden in den leeren Fensterhöhlen, zwei gerupfte Totenvögel in einem Totenhaus, hinter ihnen: Schutt und Asche. „Ein Fluch liegt auf der ganzen Schöpfung“, hieß es zuvor, jetzt sind die Folgen eingetreten. Zwischen den vereinsamt versehrten jungen Liebenden wispert aus einem Radio „Mariettas Lied“ aus Erich Wolfgang Korngolds Oper Die tote Stadt. In die melancholische Hoffnung, die es verstrahlt, mischt sich der Hohn des Faktischen. Dieses Schlussbild bleibt wortlos – ein bis zur finalen Konsequenz pessimistisches, ein entsetzliches Ende. Wie Martin Kusej im kongenialen Bühnenbild von Martin Zehetgruber sein deprimierendes Konzept von vorne bis hinten schlüssig und ohne eine einzige Peinlichkeit, die immer zu lauern scheint, durchzieht, ist eine ziemliche Sensation. Seine Gespenstersonate ist ein Menetekel. Absolut unpathetisch, absolut pathologisch. Ein tiefschwarz funkelndes Juwel des deutschsprachigen Theaters. Wertvoll. Rar.

weitere Vorstellungen: 15., 21., 27., 28. März, 6., 7. April, 20 Uhr, Thalia Theater