Das Ende einer Tradition

Das größte deutsche Amateurboxturnier, der Chemiepokal in Halle an der Saale, liegt zehnJahre nach der Wende am Boden und lebt nur noch von der Erinnerung an bessere Tage

aus HalleMARKUS VÖLKER

Ganz Sachsen-Anhalt schaute am Wochenende zum Boxen. Ein regionaler Radiosender berichtete halbstündlich vom bevorstehenden Ereignis. Für die Zuschauer sei es das Größte, verkündete man über Funk, eine Karte zu ergattern, damit „sie die spritzenden Schweißtropfen auch auf ihrer Haut spüren können“. Und das Krachen und Patschen der Treffer. Und die übliche Show mit Einmarschmusik und Spot an. Doch das gepuschte Box-Event fand in der Magdeburger Bördelandhalle statt, nicht in Halle an der Saale im Sportkomplex des Bildungszentrums. In der „Nacht der Weltmeister“ kämpfte Sven Ottke um den IBF-Titel gegen den Jamaikaner Bryan Lloyd und das Privatfernsehen war groß dabei. In Halle an der Saale gab es zum 28. Mal den Chemiepokal der Amateurboxer und die Ränge blieben leer.

Die Zeiten sind vorbei, als noch 4.000 Zuschauer die Hallenser Eissporthalle füllten und das Fernsehen fast jeden Kampf live übertrug. Das ist mehr als 10 Jahre her. Damals lud die DDR Boxstaffeln aus aller Welt ein, um den Beweis anzutreten, dass sie neben anderen Sportarten auch auf dem Gebiet des Faustkampfs überlegen war. Die umliegenden Chemiebetriebe Buna und Leuna hatten auf Weisung von oben die Patenschaft zu übernehmen. Ähnlich der gezwungen freiwilligen Teilnahme an Demonstrationen zum 1. Mai delegierten die VEBs, die „volkseigenen Betriebe“, Claqueure und Interessierte zum Turnier, das 1970 ins Leben gerufen wurde. Bis zur Wende versuchte man dem verruchten Profiboxen die Regeln der Amateure entgegenzuhalten, und das verstand sich auch als Klassenkampf beziehungsweise Wertestreit von Fairness, Völkerverbindung und Lauterkeit wider Korruption, Kommerz und Kungelei.

Eine Dekade nach der Wende liegt das Turnier am Boden. Kaum mehr als 200 Karten werden pro Kampftag abgesetzt. Dem Weltverband Aiba hallt ein dubioser Ruf nach. Das Amateurboxen und damit auch der Chemiepokal ist am Scheideweg angekommen. „Wenn man sich hier in Halle umschaut, kommt man zu dem Ergebnis: Wir haben uns schon aufgegeben“, sagt Karl-Heinz Wehr, ehemaliger Generalsekretär der Aiba. Er und die europäischen Boxnationen sind mit ihren Neuerungsvorschlägen gescheitert. Sie wollten den Faustkämpfern den Kopfschutz wieder abnehmen, damit der Zuschauer erkennen kann, wer boxt. Sie bestanden auf der herkömmlichen Kampfdauer von drei mal drei Minuten. Nun wird zwei mal vier Minuten lang geboxt, was nur den „Konditionsmonstern“, weniger aber den guten Technikern Siegchancen bietet. Sie plädierten für mehr Transparenz. Details, mit denen sie bei Anwar Chodhry (77), einem Pakistani, der 1986 auf denhöchsten Posten der Aiba gewählt wurde, nicht durchkamen.

Und außerhalb des Rings, sagt Wehr, würden Fights abgesprochen, wie man es vielleicht nur dem US-amerikanischen Boxpromotor Don King zutraut. Ein solches Umfeld stößt den Organisatoren des Chemiepokals übel auf; ihnen, die vom „Gift des Profigeschäfts“ und der „Abartigkeit des Kommerz“ sprechen.

Da gerät es fast zur Nebensache, dass sie mit dem Chemiepokal eigentlich genug Probleme haben. „Er ist leider zu einer Familienveranstaltung verkommen“, sagt Jürgen Behlert, der Organisationschef. „Aufwärts hieße für uns schon, wenn es so bleibt wie es ist“, resümiert Manfred Jost, Chef des Box-Landesverbandes Sachsen-Anhalt. Jährlich kämpfen sie ehrenamtlich um Sponsoren, deren spärliche Gelder die Existenz gerade mal sichern. Jost: “Früher, da gab es ein bestimmtes Fluidum, da war was los.“ Nun lamentieren Behlert und Jost über die Art der Austragung. Weil das Turnier diesmal als Qualifikationswettkampf für die EM und Olympia veranstaltet wird, verlören die Zuschauer jegliches Interesse, da nur fünf deutsche Boxer im Teilnehmerfeld stehen und weil das mehrstündige Tagesgeschehen eher einschläfernd denn aufregend verläuft.

Über 200 Boxer aus 37 Nationen kämpften, darunter sieben deutsche Faustkämpfer. Im Vorfeld qualifizierten sich bereits sieben Athleten des Deutschen Amateur-Boxverbands (DABV) für die Olympischen Spiele, als achter darf nun auch der Berliner Halbweltergewichtler (63,5 Kilogramm) Kay Huste, 25, nach Australien fahren. Auch der mehrmalige Gewinner des Chemiepokals, Steven Küchler (Weltergewicht, 67 kg) ist in Sydney dabei.

Küchler ist der Liebling des Publikums, weil er mit pfundigen Schlägen und Sätzen dem Image eines Profiboxers am ehesten entspricht. Das weiß der 24-Jährige. Nach Olympia möchte er zu den Profis wechseln. Küchler sagt, er komme gut an, weil er sich als „echter Ossi“ präsentiere. Was auch heißt: Wenn er mal in Hollywood sei, dann sollten die Leute dort schon wissen, dass der Herr Küchler nicht aus dem Tennisstädtchen aus Westfalen komme, sondern aus Halle an der Saale. Seit 1993 lägen ihm Angebote von Profi-Promotern vor. Aber: „Man muss als reifer Boxer zu den Profis gehen“, sagt er und pflegt seinen Ruf als harter Hund. Noch immer ärgert er sich, dass er bei der Junioren-EM 1993 in Griechenland nach Hause geschickt wurde, obwohl er alle Kämpfe gewann – die letzten allerdings mit doppeltem Kieferbruch. Auch angeknackste Rippen oder ein Bruch in der Schlaghand, gar ein viertägiges Koma nach Autounfall, hielten ihn nicht davon ab, wieder in den Ring zu steigen. Küchler: „Ich kann alles, ich kann vor allem fighten.“ Küchler weiß, worum es beim Faustkampf eigentlich geht: „Boxen muss ein Erlebnis sein.“ In ein paar Monaten möchte er auch mal solche Sätze wie der „schnelle Sven“ (Küchler) übers Radio verbreiten. Ottke hatte markig verkündet, die Magdeburger Bördelandhalle sei das, was Wimbledon für Boris Becker sei. Küchler dürften solche Statements ziemlich leicht fallen.