SCHEIBENGERICHT: NEUE PLATTEN KURZ BESPROCHEN VON DANIEL BAX
: Idir

Der algerische Sänger Idir zählt zur rar gewordenen Spezies des Drittwelt-Intellektuellen im Exil, den die alte Heimat nicht loslässt, der sich aber auch in seinem neuen Zuhause politisch engagiert. So beteiligte sich Idir in Frankreich an SOS Racisme und mit dem Kollegen Khaled initiierte er 1995 nach den Massakern in Algerien die Benefiz-Bewegung „Algérie, la vie“, die der Unterstützung zivilgesellschaftlicher Gruppen diente.

Der 52-jährige Musiker ist Kabyle, wie die nordalgerischen Berber ethnologisch korrekt bezeichnet werden. Sie sind so etwas wie die Kurden des Maghreb, wurden sie doch nach der Unabhängigkeit zum Opfer der offiziellen Arabisierungs- und Islamisierungspolitik.

Aus den Siebzigern, als er mit seinen Songs eine Gegenposition zum arabischen Schlager bezog, stammt Idirs Status als Stimme der Kabylen. Lange hatte er sich zurückgezogen, erst in den Neunzigern kehrte er wieder ins Studio zurück. „Identités“ ist streng genommen erst sein drittes Album, und es enthält noch nicht einmal neue Stücke. Trotzdem hat es bei seinem Erscheinen einiges Aufsehen erregt, denn Idir legt damit eine musikalische Autobiografie vor, die er als Gemeinschaftswerk angelegt hat.

Antwort auf die leidige Frage nach Identität, im Titel als Plural formuliert, findet sich seiner Meinung nach nur im Austausch mit anderen. Aus diesem Grund ist seine Best-of-Platte zum kleinen Panorama der multikulturellen Musikszene Frankreichs geraten, die sich mit Idir im Studio ein Stelldichein gab: Manu Chao und das Orchestre National de Barbés, die Bretonenband Dan Ar Braz und die Schottin Karen Matheson gehören zu den Mitwirkenden, denen „Identités“ seine mal mediterran, mal keltisch gefärbte Melancholie verdankt. In aufgefrischter Form zeigt sich die zeitlose Klasse der Kompositionen, auf die Idir, im Unterschied zu vielen anderen seiner Generation, mindestens ebensolchen Wert legte wie auf die Texte. Nur in den Zeilen schwingt noch ein wenig der Sound jener Dekade, in der die Songs entstanden. „Un homme qui n’a pas de frère a quoi ça sert?“ – „ein Mensch, der keinen Bruder hat, wozu soll das gut sein?“, heißt es etwa in dem Song, den sich die Gruppe Zebda ausgesucht hat. Im Zeitalter atomisierter Elementarteilchen klingt solch Brüderlichkeitspathos rührend altmodisch.

„Identités“ (Sony/Import)

Sally Nyolo

Zurück nach Afrika, Teil 2. Sally Nyolo ist in Kamerun aufgewachsen und lebt heute in Paris. Nach Jahren als Backgroundsängerin und prominenter Teil des Women-only-Vokalensembles Zap Mama steht sie inzwischen auf eigenen Füßen.

Das Album „Beti“ ist bereits ihr dritter Alleingang, für den sich Sally Nyolo in den zentralafrikanischen Busch geschlagen hat, zu den Frauen des Beti-Volks in Kamerun und auf der Suche nach den Melodien, Rhythmen und Geräuschen ihrer eigenen Kindheit im Dorf.

Was beginnt wie eine ethnografische Feldaufnahme, die Alltagsgeräusche aus diesem geschlossenen Kosmos einfängt, entspinnt sich allmählich zu einem akustischen Reisebericht, den Nyolo als ganz persönliches Dschungelbuch in Szene setzt.

Erstmals umgibt sich die Sängerin, die ihre Stimmspielereien bisher bestenfalls von ein bisschen Percussion umspülen ließ, mit richtigen Instrumenten, lässt sich von einem grummelnden Bass begleiten und einer hüpfigen E-Gitarre.

Von gesungenen Schlafliedern, Abzählreimen und anderer Alltagsmusik führt ihre Expedition daher geradewegs zum elastischen Tanzbeat der landeseigenen Popmusik Kameruns, in welche die Melodien und Rhythmen des Dorfes einfließen. Dass sie unter die Lieder der Dorffrauen noch dezent ein paar feministischen Botschaften mischt, ist ein sympathischer Schachzug, der ins Konzept passt.

„Beti“ (Tropical)

Kaouding Cissoko
Soriba Kouyaté
Taj Mahal & Toumani Diabaté

Die Kora ist sicher das auffälligste Instrument Afrikas. Mit ihrem riesigen Kalabassenbauch und dem 21-Saiten-Stiel überragt die Harfenlaute gelegentlich sogar den Musiker, der sich hinter ihr versteckt. Den flirrenden Klang der Kora hat Mory Kanté vor vielen Jahren einmal mit seinem Disco-Hit „Yeké Yeké“ auf die Tanzflächen der Welt geführt. Doch aus dem Flirt zwischen der uralten Manding-Tradition Malis und der Popszene entsprang keine dauerhafte Liason.

Das liegt mehr am schnelllebigen Markt als an den Musikern, denn die sind extrem experimentierfreudig. Deswegen finden sich in den Weltmusik-Abteilungen der Plattenläden stets neue Aufnahmen von Musikern mit Namen wie Kanté, Diabaté, Kouyaté oder Cissoko – gängige Nachnamen für all jene, die zur Musikerkaste der Griots zählen und in vorkolonialer Zeit als Geschichtenerzähler und Lobsänger zum Hofstaat westafrikanischer Könige gehörten. Eine Griot-Dynastie bildete früher fast so etwas wie ein Adelsgeschlecht.

Kaouding Cissoko stammt aus dem Senegal, und aus der Band des Sängers Baaba Maal. „Kora Revolution“ heißt etwas hochtrabend sein erstes Solo-Album, das dem Anspruch einer musikalischen Umwälzung nicht ganz gerecht wird. Mit dem Jazzbassisten Ira Coleman und diversen Sängern, darunter Baaba Maal, erzeugt Kaouding Cissoko melodiösen Wohlklang, der keinen festen Ort zu haben scheint. Das perlende Klimpern der Kora, deren Töne vom Himmel herabzuregnen scheinen, führt oft in mediterrane Gefilde, allein der Gesang holt den Hörer immer wieder nach Afrika zurück.

Ähnlich international, aber ein bisschen avantgardistischer lässt es Soriba Kouyaté aus dem Senegal angehen. Der 37-Jährige weiß die Saiten seiner Kora, die er wie eine Gitarre gestimmt hat, kopfüber hinter seinem Rücken zu zupfen, wie es einst Jimi Hendrix vormachte. Mit dem französischen Produzenten Philippe Gaillot und einer ganzen Jazzfunk-Equipe schreckt er zwar nicht einmal davor zurück, sich den Phil-Collins-Klebstoff „Another day in paradise“ als Vorlage zur Fingerübung zu nehmen. Glücklicherweise zerstückelt das Team den Song aber bis zur völligen Unkenntlichkeit. Fragt sich bloß, warum Phil Collins dafür Tantiemen bekommen soll?

Nicht alle Ausläufer der lebendigen Manding-Folklore münden ins musikalische Irgendwo. Es gibt diese Theorie, die sich wachsender Beliebtheit erfreut, dass nämlich der Blues seinen Ursprung nicht am Mississippi, sondern in Mali hat. Fest steht, dass sich die beiden Traditionen vorzüglich zusammenfügen. Deswegen ist Ry Cooder vor einigen Jahren nach Timbuktu gepilgert, und Taj Mahal, auch er ein Grenzgänger der US-Rootsszene, hat sich in einem Studio in Athens kürzlich mit einer All-Star-Band aus Mali eingefunden. Der Kora-Virtuose Toumani Diabaté hat für diesen Anlass eine Art westafrikanischen Buena Vista Social Club zusammengetrommelt, mit dem sich Taj Mahal hörbar wohlgefühlt hat. Auch wenn man, wie Taj Mahal, Afrika als Urquell aller Klänge lokalisiert: man muss das nicht gleich eine Wiedervereinigung nennen.

Kora Revolution (Palm Pictures) Kanakassi (ACT) Kulanjan (Hannibal)

Virginia Rodrigues

Wenn Brasilien in diesem Jahr feierlich seinen 500. Geburtstag begeht, dann sollte es dabei die Bedeutung seiner schwarzen Bevölkerung für die Kultur des Landes nicht unterschlagen. Findet jedenfalls Virginia Rodrigues, und erinnert mit „Nos“ („Wir“) an die Musik der so genannten Afro Blocos, jener Kreuzung aus Kulturvereinen und Karnevalsformationen, die einen wichtigen Beitrag zur afrobrasilianischen Emanzipation geleistet haben. Bei der Auswahl der Titel zur Hand ging ihr bei diesem Projekt der Songwriter Caetano Veloso. Er hat die Sängerin, die sich noch vor wenigen Jahren als Köchin und Kosmetikerin verdingte, in kurzer Zeit wie ein Coach zur strahlenden Symbolfigur des schwarzen Salvador de Bahia aufgebaut. Dafür bietet sich die korpulente Sängerin an, spiegelt sich in ihrer Biografie doch der Synkretismus der Stadt, in deren Barockkirchen Virginia Rodrigues im Chor sang, bevor sie sich dem Candomblé zuwandte. Dieser polytheistische Glaube bot einst die Basis zur Enstehung berühmter Afro Blocos wie Ile Ayé oder Afreketé, deren Wirken Virginia Rodrigues einen kammermusikalischen Tribut zollt.

„Nos“ (Hannibal)

Lenine
GabrielO Pensador

„Das Land des Swing, das Land der Widersprüche“, singt der Brasilianer Lenine im ersten Song seines neuen Albums über sein Land. In seiner Musik münzt er die Widersprüche in kreatives Kapital und zeigt sich beeinflusst sowohl von der Mega-City Rio, wo er lebt, als auch von den Folklorismen des brasilianischen Nordens, aus dem er ursprünglich stammt. Allerhand Rhythmusgeschirr scheppert, rasselt und klappert zum trockenen Crossover-Funk, an dem sich die Red Hot Chili Peppers ein Beispiel nehmen könnten, und typisch brasilianische Instrumente kommen ebenso zum Einsatz wie moderne Sampler-Technologie – Brasil-Folk trifft Futurismus.

Genauso intelligent, nur mit weniger Lokalkolorit verpackt Rios Rapper Nummer eins, Gabriel O Pensador, seine gesellschaftskritischen Reime. Auf dem Cover posiert er vor der Rückansicht gebräunter Bikini-Nackedeis, ein sehr südamerikanisches Motiv. Doch Gabriel O Pensador ist kein Macho-Rapper, das Bild illustriert lediglich sein Wortspiel von den „Nackte Hintern zu deklarieren“ – mit diesem Titelsong zieht Gabriel, der Denker im Duett mit der Samba-Funk-Sängerin Fernanda Abreu eine böse Bilanz des modernen Brasiliens. Wer kein Portugiesisch versteht, muss allerdings auf den hoch gerühmten Witz seines Raps verzichten, denn auch das Booklet liefert keine Übersetzungshilfe. International anschlussfähig aber ist Gabriels Partymusik aus gepflegten HipHop-Grooves und lauschigem Disco-Funk, auf dem er so elegant surft wie die coolen Wellenreiter an der Copacabana von Rio de Janeiro.

„Na Pressao“ (BMG) „Nadegas a declarar“ (Sony/Import)