Die große Geste des alten Mannes

Einen Schlussstrich unter 2000 Jahre Kirchengeschichte im Zeichen von Feuer und Schwert wollte der Papst gestern ziehen. Er gelang ihm nur unzureichend

von BERNHARD PÖTTER

Es war der Tag der Symbole und der Inszenierung, die die katholische Kirche meisterhaft beherrscht und einzusetzen weiß: Der Tag des historischen „Mea culpa“ des Papstes. Er sprach die Schulderklärung im Kreis von Kardinälen, gekleidet in das Messgewand der Fastenzeit, dessen violette Farbe die Buße symbolisiert, und er küsste das Kruzifix. Die Kirche leistet Abbitte vor Gott und vor der Welt.

Die Kirche? Kurienkardinal Joseph Ratzinger hatte schon vier Tage vor dem Schuldbekenntnis des Papstes Erläuterungen vorausgeschickt: Die Kirche sei weiterhin eine heilige Institution, der Papst weiterhin in Glaubensdingen unfehlbar. Und das gestern gesprochene Bekenntnis ging zwar im Umfang weit über die Erwartungen hinaus – so bekannte der Papst beispielsweise auch „Sünden gegen die Würde der Frau“ – blieb aber in den Formulierungen vager als erhofft.

Die Schuld bleibt vage

Unausgesprochen blieben Worte wie Ketzerverbrennung und Kreuzzüge, Holocaust und Judenmord. Und an keiner Stelle bekannte sich das Kirchenoberhaupt zu einer Schuld der Institution Kirche, immer war es nur die von „Christen“ oder „Mitgliedern“ oder einfach „vielen“.

Die extrem ungewöhnliche Vorab-Interpretationshilfe Ratzingers hat bereits gezeigt, welches Gewicht der Vatikan der Erklärung beimisst. Das feierliche „Mea culpa“ krönt die Amtszeit von Johannes Paul II.: Er will einen Schlussstrich unter 2000 Jahre Kirchengeschichte im Zeichen von Feuer und Schwert ziehen – und ein neues Zeitalter einläuten, in dem die katholische Kirche mit einer Milliarde Gläubigen weltweit als moralische Instanz anerkannt wird. Der alte und kranke Karol Woityla widerlegt mit diesem Kraftakt alle Gerüchte über ein vorzeitiges Abdanken. Immerhin hat er sich mit dem Bekenntnis auch gegen viele Widerstände im konservativen Klerus durchgesetzt.

Der Blick zurück in Trauer soll endgültig die moralischen Altlasten einer Institution zu den Akten legen, die immer Liebe, Vergebung und Versöhnung predigte und ihre Interessen gleichwohl oft mit nackter Gewalt durchsetzte. Entsetzen über die Fehler seiner Vorgänger ist beim polnischen Papst nicht neu: 1992 rehabilitierte er den Wissenschaftler Galileo Galilei. Im gleichen Jahr bekannte er in Santo Domingo die historische Schuld der Kirche gegenüber den Ureinwohnern Amerikas, 1995 bat er in Tschechien um Vergebung für die Verbrennung des Reformators Jan Hus. Insider sagen, der Papst habe bisher etwa 90-mal Fehlverhalten von Kirche und Gläubigen erwähnt.

Diesmal ist es ein Geständnis mit der Hoffnung auf Generalabsolution. In den zwei Jahrzehnten seines Pontifikats hat der Papst die Kirche zur Welt geöffnet, intern auf konservative Linie gebracht und den Dialog mit den anderen Religionen aufgenommen. Nun steht Vergangenheitsbewältigung an. Entstanden aus einer der unzähligen jüdischen Sekten um das Jahr null wurde das Christentum innerhalb von nur vier Jahrhunderten zur Staatsreligion des mächtigen römischen Imperiums. Weltliche und kirchliche Macht reichten sich die Hände, an denen oft Blut klebte. Päpste und Könige stürzten sich mit dem Schlachtruf „Gott will es“ in die Kreuzzüge, bei denen hunderttausende von Menschen starben. Unzählige Opfer forderte auch die „Heidenmission“, bei der Staat und Kirche ebenfalls eng kooperierten: Die Bevölkerung wurde unterworfen und zwangsweise getauft, die Kirche sorgte für die theologische Begründung der Völkermorde. In der Inquisition bediente sich die Kirche der staatlichen Terrormittel, um gegen „Ketzer“ und Andersgläubige vorzugehen.

Was das Schuldbekenntnis nicht erwähnt: Von ihrer ökonmischen und politischen Macht löste sich die Kirche nicht freiwillig. Erst durch massive Kirchenkämpfe etwa in Frankreich, Deutschland und Italien setzten die bürgerlichen Gesellschaften die Trennung von Staat und Kirche durch.

Vor allem gegenüber den Juden haben die Christen ihre Schuld erkannt. Die Bezeichnung „Gottesmörder“ für das Volk, das laut Bibel den Juden Jesus ans Kreuz gebracht hatte, wurde offiziell erst Mitte der 60er-Jahre aus dem Wortschatz des Vatikans getilgt. Über die Jahrhunderte verfolgten, vetrieben und ermordeten die Christen die Juden, doch mit dem „modernen Rassenhass“ der Nazis wollten die Theologen nichts zu tun haben. Papst Pius XII. schwieg zum Holocaust, weil er angeblich durch „stille Diplomatie“ hunderttausende von Juden rettete.

Die Reue-Erklärung bleibt in einem wichtigen Punkt hinter den Hoffnungen zurück: Wie schon bei der vatikanischen Shoah-Erklärung von 1998 sind es wieder nur einzelne Christen, deren Verbrechen bedauert werden – die Kirche als Ganze bleibt ohne Fehl und Tadel. Das entspricht katholischer Tradition, nach der die Kirche von Gott gegründet und daher perfekt ist, und ihre Fehler von sündigen Menschen gemacht werden.

Ob diese spitzfindige Unterscheidung den eigenen Gläubigen zu erklären ist, bleibt fraglich. Trotzdem hat die Erklärung weitreichende Folgen für die innere Struktur der katholischen Kirche: Immerhin hat sie zugegeben, dass sich selbst ihre höchsten Vertreter so grundsätzlich irren können, dass daraus Verbrechen resultieren. Wenn es aber ein menschlicher Fehler war, zum Kreuzzug aufzurufen, kann es auch eine menschliche und daher fehlbare Entscheidung sein, etwa Frauen vom Priesteramt auszuschließen.

Während die Kirche nach außen bereut, weht intern ein anderer Wind. Kritiker werden gemaßregelt und mundtot gemacht, Frauen werden weiter diskriminiert, Abweichler gnadenlos kaltgestellt. Der vom Papst geschasste Tübinger Theologe Hans Küng meinte, zwar würden die Betroffenen nicht mehr physisch verbrannt, aber „eingeschüchtert und um Stellung und Ruf gebracht“.

Das mediengerechte „Mea culpa“ des Papstes hat auch strategische Bedeutung: Denn gerade unter Johannes Paul II. strebt die katholische Kirche nach der Rolle einer globalen Moralinstanz.

Ziel: Moralische Führerschaft

Nach dem Ende des Kommunismus hat der einstige kalte Krieger Woytila erkannt, dass die „neue Weltordnung“ im Sinne der USA nicht das Paradies auf Erden bedeutet. Mit ungewohnter Schärfe hat sich der Papst etwa gegen den Golfkrieg gewandt und die Sanktionen gegen den Irak kritisiert, er geißelt ungezügelten Kapitalismus und ungerechte Weltwirtschaft, Rüstung und die Fehlentwicklungen in der Biotechnologie.

Nach außen moderat, nach innen strikt hierarchisch und konservativ, so soll die katholische Kirche nach dem Verlust der weltlichen Macht die geistig-moralische Führerschaft in der Welt übernehmen. Dass dieser Spagat zwischen äußerem Anspruch und innerer Wirklichkeit kaum funktioniert, hat die kirchliche Basis längst begriffen, die römische Zentrale unter Papst Johannes Paul II. allerdings noch nicht. Vielleicht wird in einigen Jahrhunderten wieder ein Papst um Vergebung für Arroganz und Machtmissbrauch der Kirche bitten – diesmal bei seinen eigenen Gläubigen.