Texte auf Reisen

Trendbüro für europäische Dramatik oder informelles Netzwerk: Das „Europäische Komitee für Neue Dramatik“ präsentierte sich am Sonntag in der Schaubühne

„Nicht die Theater sollen reisen, sondern die Texte“, fasste Moderator Thomas das Anliegen des Theaterkomitees zusammen, das sich am Sonntag in der Schaubühne vorstellte. Und das funktioniert so: Je ein französisches, deutsches, englisches und italienisches Theater schickt alle vier Wochen einen Dramaturgen mit zwei landestypischen neuen Stücken zur europäischen Lesegruppe. Dort erzählt man sich, warum dies Stück im eigenen Land so gut ankommt und jenes aus dem Nachbarland zu Hause niemand verstehen wird, verständigt sich über kulturelle Unterschiede und Dialekte, einigt sich (manchmal) auf Übernahmen und Übersetzungen.

Ein kleines Netzwerk also, um den Softwareaustausch zu forcieren. Sowohl Thomas Ostermeier (Schaubühne, Berlin) als auch Graham Whybrow (vom Royal Court Theatre, London) sind scharf darauf, möglichst noch vor den Verlagen die neuesten Stücke in den Händen zu haben. Das zeitgenössische Theater müsse nach vorne gehen, um Gegenwart und Zukunft zu definieren. Wir wollen als erste die besten neuen dramatischen Texte spielen, verkündete der Engländer Whybrow kulturellen Wettbewerbsgeist. Wie einigt man sich auf die besten Stücke, wollte Moderatorin Barbara Engelhardt gerne wissen. Oh, das hängt von so vielem ab, versuchte Laure Hémain (Théâtre National de la Collins, Paris) eine Antwort, aber am besten ist es, wenn es keine Kriterien gibt. Doch die Moderatorin hakte nach: „Besteht nicht die Gefahr, dass das Komitee ein Trendbüro für europäische Dramatik wird?“ Man habe das ja in den letzten Jahren beispielhaft beobachten können, wie sich neue englische Texte (u.a. von Sarah Kane, Mark Ravenhill) von London über die Berliner DT-Baracke in ganz Europa ausgebreitet haben.

Der vormalige Baracken-Chef Thomas Ostermeier raufte sich das Haar: Wie kriegt man nur dieses Label weg, ein Aufführungsort für kleine, schmutzige, englische Well-made-Plays zu sein? Sylvano Panichi (Teatro della Limonaia, Florenz) kam ihm zu Hilfe. Es gebe keine Welle. Die englische Dramatik sei in den letzten Jahren nur deshalb so stark gewesen, weil die Engländer am meisten an sich glauben. Entscheidend für ein gutes Stück sei doch, dass der Dichter davon überzeugt ist.

Auf dem Podium saß noch, lange aufmerksam schweigend, ein weißhaariger Mann. Das war Tankred Dorst, der deutsche Theaterdichter und Leiter der Bonner Biennale, einem internationalen Autorenfestival. Er sprach dann lange und vergnügt von seiner Neugier, den Unterschieden in 38 europäischen Ländern, von wunderbarem Theater in Barcelona und verschneiten Moskauer Hinterhöfen. Und man bekam Lust, es ihm gleich zu tun, selbst durch fremde Länder zu reisen, um Theater zu erleben. Dass die Suche nach dem anderen auch im eigenen Land möglich ist, gehört zur neuen Weltkultur wohl dazu.

Allerdings nährte das Gespräch auf sympathische Weise auch den Verdacht, dass sich das Theater auf lange Sicht vor allem als romantisches Refugium lokaler Kulturen behaupten wird, vom Tanz und anderem textlosen Theater mal abgesehen.

STEFAN STREHLER