Die Maus, die Maus ist noch lange nicht aus

Gegen Einsamkeit, Langeweile und Krankheit hilft nicht nur Schnaps. In Berlin haben Rentner ihre eigenen Oasen. Die Seniorenveranstaltungenretten immer mehr alte Menschen vor der Isolation. Schade nur, dass die richtigen Männer so knapp sind. Eine Reportage vom Tanztee
von FRANZISKA REICH

Ein Herr nähert sich. „Hab’n Jroschen jesetzt, dass eine von euch beiden Süßen mir keenen Korb gibt“, sagt er und hält den Arm hin. „Wenn de dich da man nicht verkalkuliert hast“, erwidert die eine, dreht den Kopf weg und setzt leise nach: „Aber vielleicht Elisabeth.“ Elisabeth lächelt und antwortet: „Jerne doch“, setzt die Hände auf die Tischplatte, drückt sich hoch, schwankt, greift nach dem Arm, der rettet, zieht sich heran und beginnt. Langsam lässt sie ihre Hüften kreisen, legt den Kopf schräg und schaut dem Galan tief in die Augen. „Biste noch mobil, altes Mädchen“, sagt der Herr und schwingt mit.

Samstagnachmittag, Prenzlauer Berg, Berlin. Die Alten haben sich fein gemacht. Fein, festlich, fürstlich. Perlenketten schimmern an faltigen Hälsen, Röcke wallen weich wie Loreleis Haar, Bügelfalten kanten scharf wie ein Metzgermesser. Heute sind die Alten schön. Und wild. Wild auf den Tanz. Der Prater lädt zum Seniorentanztee.

Die Pünktlichen sitzen schon an dunklen Holztischen und trinken Kaffee und Rosenthaler Kadarka. Rot ist Kadarka, rot ist die Liebe und rot die Sünde. Rot glüht die leere Bühne, die Diskokugel dreht sich nicht, und hinter den Fenstern mit den dunklen Gittern nieselt der Märzregen.

Wer am Samstag in den Prater kommt, ist von Sonntag bis Freitag einsam. Und alt. Oder mittelalt wie die Jeff Combo. Ein Schlagzeuger, ein Orgelspieler. Sie sitzen an der Theke und trinken Cola. Zwei Lieder, Cola, zwei Lieder, Cola – das ist der Rhythmus der beiden Musiker, denn das ist der Rhythmus, der alte Knochen swingen und Herzen nicht aussetzen lässt. Die beiden Musiker tragen Westen und dünne Haarkränze um spiegelnde Glatzen. „Die Alten ham mehr Spaß als die Jungen“, sagt der Schlagzeuger.

An den Tischen wird Eierlikör bestellt. Und Jacobi 1880. Wer fehlt, fällt auf. „Der macht auch nicht mehr lang“, mutmaßt eine kleine Frau. Sie trägt eine lilafarbene Blümchenbluse mit passendem Rock, die aschfarbene Perücke sitzt schief. „Glaub’ ich nicht“, brummt Elisabeth. „Letzte Woche war er aber auch nicht da“, erwidert die Perückenfrau und zupft der Freundin eine Fluse von der Bluse. Die beiden beschlagnahmen immer den Tisch neben dem Eingang. „Der Bürgermeister von Prenzlauer Berg hat schon mit mir getanzt“, sagt sie, „und den Wirt kenn’ ich mit Küsschen auf die Backe.“ Sie streicht sich die Falten glatt. Im Rock.

„Ich hab getanzt heut’ Nacht, die ganze Nacht, heut’ Nacht, ach wär’s doch nie vorbei“, schummern die sanften Stimmen der Jeff Combo durch den Saal. Die grauen Köpfe haben sich zur Bühne gewandt, Glatze hier, Haarkrone dort. Das erste Pärchen tänzelt vorsichtig zum Parkett. Das zweite Paar tritt an, das dritte, schon fasst sich das vierte an den Schultern, das fünfte, das sechste schmeißt schwungvoll die Beine, das siebte, das achte. Volles Parkett.

Ellenlange Männer schieben mit klitzekleinen Frauen über die Dielen. Ellenlange Frauen halten klitzekleine Männer fest umklammert. Alte Damen quicksteppen mit steinalten Damen, schnipsen mit den Fingern und stoßen verzückte Schreie aus.

Dichtes Gedränge. Der Schlager klingt aus, die Alten applaudieren und starren erwartungsvoll in Richtung Bühne. Der Schlagzeuger ruft ins Mikrofon: „Einer geht noch! Unser Lied des Jahres geht doch immer noch, oder?“ „Maaaammm-bo“, wispert verzückt die blondierte Frau auf dem Barhocker. Singt sinnlich-dunkel die erste Silbe und spitzt die Lippen für die zweite. Bo ist ganz kurz. Stupst mit dem Ellenbogen ihrem Partner in die Rippen und zwinkert verschwörerisch mit dem Auge. „Mambo Number five.“

Sie ist sechzig vielleicht, hat die dauergewellten Haare kurz geschnitten und liebt das Tanzen. Fünfmal in der Woche zieht sie mit Pumps und Rüschen und ihrem Angetrauten los. In den Prater, ins Café Zenner, zum Seecafé und zum Pavillon im Tegler Ort. Kokett erhebt sie sich. Beginnt den Tanz gleich an der Theke, dreht sich vor ihrem Partner, umschlingt in schlangenbeschwörerischen Schwüngen seine Schultern und wirft den Kopf in den Nacken. „Der Fußboden ist gefährlich. Musste aufpassen mit die alten Dielen“, nickt weise eine Dame, die den Charleston liebt. Die Pailetten blitzen ölfarben auf dem tief dekolletierten, schwarzen Kleid.

Zwei mittelalte Damen sitzen über Genever und Zigarette. „’n Mann treffen Se ja hier nich“, sagt die Rotgefärbte. „Entweder Pärchen oder Verwahrloste – wohin Sie gucken“, sagt die Blondgefärbte. „Scharf auf eenen wären wa schon, aber das sieht düster aus“, sagt die Rote. „Nur – wo sollen wir hingehen? Zu Hause ist’s ja ooch mal langweilig“, sagt die Blonde und nippt am Likör. Ein Tusch, ein Klatschen und viele „Bravos“, und die beiden Musiker verlassen die Bühne. Für die nächste Cola. Das Mikro wird vor die Bühne gestellt, weil Charlotte singen will. Charlotte ist 88 Jahre alt, hat graue, halb lange Haare und ihren Schwager „an den Nazi“ und ihren Sohn „an den Russen“ verloren. „Wir waren ja zehn Kinder. Die älteste Schwester hat mich nach Berlin geholt, da musste ich mir ’ne Arbeit suchen, wo ich essen und schlafen konnte. Eigentlich wollte ich ja Lehrerin werden. Aber die Eltern hatten das Geld nicht für die Ausbildung.“ Das erzählt Charlotte. Immer wieder. „Wir waren ja zehn Kinder ...“ Zwölfmal hintereinander. Immer kommt ein neues Detail hinzu, wie bei dem Kinderspiel „Ich packe meinen Koffer und nehme mit ...“ Charlotte liebt das Singen, und sie singt schön. Selbst komponiert. Und trägt Gedichte vor. Selbst verfasst. Ihr Mann hat früher immer Akkordeon gespielt und sie Gitarre, aber er ist gestorben, und so singt sie allein, mit zarter, zitternder Stimme. Singt von der Spree, von der Treue und von Berlin: „Du warst der schöne Punkt in unserem Leben. Du hast uns immer wieder Mut und Kraft gegeben.“

Die Alten haben Platz genommen und lauschen. Schweißperlen glänzen auf den Stirnen. Eine Frau mit Schmetterlingsbrille wedelt sich Wind mit dem Bierdeckel zu. Eine andere in signalrotem Strick-Ensemble fächelt grazil mit einem farblich passenden Seidenfächer. Ein großer alter Mann hält sich einen kleinen Elektropropeller mit blauem Griff vor das Gesicht. Mann und Propeller summen.

„Früher war det ja noch drüben“, sagt ein kleiner alter Mann ohne Haare. Er hat schon der Marlene die Tür aufgehalten. „Dietrich mit Nachnamen, falls Sie die kennen“, erklärt er weltmännisch. Er schaut aus den vergitterten Fenstern über den Hof. Früher fuhren dort Artisten mit dem Rad über hohe Seile, die Damen tranken Tee mit behandschuhten Fingern, und die Männer zwirbelten ihre Schnäuzer mit Spucke. Da tanzten noch die Alten mit den Jungen in dem herrschaftlichen Haus schräg gegenüber. Mit Kronleuchtern und Kamin und glänzenden Klinken.

Damals war der Alte noch ein Junge, der für Knöpfe in den Krieg zog und Gustav mit der Hupe grüßte. Das ist lange her. Nach dem lustvollen Leben kam die Leere. Der Prater wurde vorübergehend geschlossen. Dann zog die Gaststätte ein, und seit 1997 tanzen die Alten im Holzhaus. „Hier ist’s ooch nett,“ sagt der kleine alte Mann ohne Haare.

Weil es so nett ist, lassen die meisten keinen Samstag aus im Prater und genießen Likörchen, Tänzchen und Schwätzchen. Es sind Prenzlauer Berger, Friedrichshainer, vielleicht auch Pankower und Treptower, jedenfalls immer Rentner aus dem Osten. Weil der Westen anders schwoft. „Da tragen die Damen die Nasen so hoch“, sagt eine Frau mit grünen Klunkern am Ohr. „Wejen de Männer“, sagt ihre Bekannte. „Wenn se bis jetzt noch keenen ham, dann kriegen se ooch keenen mehr“, sagt die Frau mit den grünen Klunkern.

Männer sind Mangelware. Auf jeder Tanzteeveranstaltung. Die paar Ledigen machen den Colonel, spielen Hahn im Korb oder proben den großen Maxe. Alte Männer in feinem Zwirn fordern zum Tanz. Junge Männer in furchtbarem Zwirn auch und wollen heiraten, weil Witwerwerden lukrativ sein kann.

Fünf Damen stehen auf der Toilette. „Da krieg ich ja nasse Höschen, wenn ich so lang warten muss“, kichert die eine. „Mein Mann hat mich immer Traudchen genannt“, sagt die zweite. „Meiner hat immer Muschi gesagt“, sagt die dritte. „Der hatte wohl keene Benimmse“, sagt die vierte. „Das muss doch gleich alles wieder in de Wäsche“, stöhnt die fünfte und zupft sich die Bluse aus den Achseln.

Die zweite trägt Rouge auf, die dritte Lippenstift und die erste rüttelt an den Klotüren. Die vierte mahnt: „Schnell, die letzte Nummer.“ Und schon schieben die fünf durch die Schwingtür.

Im Saal rocken die Rentner zu Johnny Cash. Tiefschwarz senkt sich der Abend, schwülrot schummert das Licht durch den Saal, sanft golden leuchtet der letzte Schluck Jacobi 1880 im Glas. Einige zücken die Geldbörsen, andere greifen schon nach Hut, Stock und Mantel und schieben hinaus aus der Wärme, hinein in die Großstadt. Über der Tür prangt, von einer Schlange umschlungen, schwarz ein Herz. Hände werden geschüttelt. „Halt dich wacker, Elisabethchen“, sagt die kleine Perückenfrau. „Halt dich wackerer“, erwidert Elisabeth, und so humpeln sie los. Angeheitert von Lied und Likör stolpern mehr und mehr Alte durch die Holztür mit dem Schlangenherzen, rumpeln vorsichtig durch die Asphaltlöcher, stochern mit Stöcken auf der Suche nach Halt und verschwinden in der nasskalten Dunkelheit.

Zitate:

Die Perückenfrau

„Der macht auch nicht mehr lang. Letzte Woche war der auch schon nicht da“, sagt die Perückenfrau zu ihrer Freundin und streicht sich die Falten glatt. Im Rock

Die Frau mit den grünen Klunkern

„Im Westen tragen die Damen die Nasen so hoch. Aber wenn se bis jetzt noch keenen ham, dann kriegen se ooch keenen mehr.“