stimme der kritik
: Betr.: Nett King Kohl

DIE EIN-MANN-DRÜCKER-KOLONNE

Als er Anfang der 80er an die Macht kam, schlug Herbert Nagel in der taz als situationistische Guerilla-Taktik vor: „Wir entführen Kanzler Kohl und fordern als Lösegeld ein Glas Gurken!“ Das hätte die Komödie schon im ersten Akt als Farce entlarvt. So währte sie vier lange Wahlperioden – doch Vergangenheit, die nicht erledigt wird, wiederholt sich, und so findet der Hauptdarsteller, an seiner eingebildeten Heldenrolle irre geworden, jetzt keinen anderen Ausweg als eben diesen: ein Glas Gurken. Nichts anderes stellt die Kohlsche Kollekte dar – und doch könnte sie als symbolisches Tauschobjekt funktionieren, die Volksseele ist versöhnungswillig. Wenn Kohl auspackt und sich als „Koof mich“ outet, bleibt kein Stein auf dem anderen – sein Ehrenwort deckt mehr als nur die Eisbergspitze von zwei Millionen Bimbes. Es hält den Restbestand von Treu und Glauben an Recht und Demokratie zusammen. Das wissen nicht nur die, die der Ein-Mann-Drücker-Kolonne jetzt Cocktail-Gürkchen spendeten. Mit seiner Bettel-Performance markiert der Alt-Kanzler den heimlichen Höhepunkt der aktuellen Trash-Kultur. Was mit „Big Brother“, Comedy-Dünnpfiff und Fick-&-Fun-TV in Permanenz zelebriert wird – die Vermüllung von Intimität, die Verherrlichung des Obszönen, die Hochzeit von Dumpf und Dreist –, wird von der Reality-Show des großen Bimbes-Bruders noch übertroffen. Dass die größten Knallchargen unter seinen Günstlingen, wie das thüringische CDU-Tränentier Lengsfeld, die Aktion „hinreißend“ finden, passt ins Bild. Kommt Kohl durch mit seinem Glas Gurken für das faule Ehrenwort, werden Konspiration, Korruption und Vertuschung – das Obszöne als Mittel der Politik – salonfähig. Sagenhafte 35 Prozent in Schleswig-Holstein waren schon dafür. Der Beschissmus wird Normalität. Niemand anderes als der Grandseigneur des Aussitzens kann eine solche Peinlichkeit zum Paradigma erheben. Guildo, Maschendrahtzaun, Knorkator waren nur ein Vorspiel – der eigentliche King of Trash bereitet seinen Großauftritt gerade vor. Fehlt nur noch, dass er zum Parteitag die Nationalhymne furzt. MATHIAS BRÖCKERS