Der gute Geist des Parlaments

Jakob Maria Mierscheid, der zweifellos gesichtsloseste aller Bundestagsabgeordneten, hat ein eigenes Restaurant in Berlin-Mitte eröffnet. Denn der Sozialdemokrat kämpft um seine Existenz
von ANNETTE ROLLMANN

Es ist immer das Gleiche. Die Journalisten und die Politikerkollegen warten auf den Abgeordneten Jakob Maria Mierscheid. Aber der kommt nicht. Der SPD-Abgeordnete, der seit 1979 im Deutschen Bundestag sitzt, ist so selten präsent, dass einige schon von einem Phantom Mierscheid reden. Doch gestern heizte Mierscheid die Gerüchteküche erneut an und lässt nun selber kochen. Doch selbst am ersten Abend der Eröffnung seines neuen Restaurants „Café Mierscheid“ in der Reinhardtstraße in Berlin-Mitte erschien der Politiker nicht.

Sein Geschäftspartner, der Grieche Aris Papageorgiou, nahm es vergleichsweise gelassen hin. „Ich kann auch nichts machen. Was weiß ich, was der Mierscheid wieder mal in seinem chaotischen und überfüllten Terminkalender durcheinander gebracht hat“, sagte Papageorgiou, der in Berlin bereits die zwei renommierten Restaurants „Die Möwe“ und „Die Kaiserstuben“ betreibt. Papageorgiou hatte „von Anfang an Bedenken, zusammen mit Mierscheid ein Café zu eröffnen“. Er habe befürchtet, dass die ganze Arbeit an ihm hängen bleiben werde: „Sehen Sie, so ist es nun auch.“

Mit dem Abgeordneten Mierscheid verhält es sich nicht so wie mit anderen Politikern. Der Mann ist zwar in allen möglichen Bundestagsprotokollen verzeichnet und stellt auch immer wieder Anträge. Noch am 3. März formulierte er einen Entschließungsantrag über den Ausgleich von wegfallenden Prozessionsgelegenheiten der Rheinländer. Doch bei Terminen ist er unzuverlässig. Selbst der Bundestag wird von ihm offenbar nur sporadisch aufgesucht. Der Abgeordnete musste deshalb schon enorme Strafgelder abführen.

Entsprechend ging auch schon in Bonn das Gerücht um, dass es den Jakob Mierscheid gar nicht gibt. Aber das ist unwahrscheinlich. Die Pressestelle des Bundestages bestätigt zwar nicht ausdrücklich seine Existenz, aber das Protokoll beweist das Gegenteil: Und ein Protokoll lügt nicht. Also, vermutlich steckt vielmehr eine Intrige unter Kollegen dahinter. Üble Nachrede zum Schaden des Politikers Mierscheid.

Zudem gab der Abgeordnete just dem Bonner General-Anzeiger ein Exklusivinterview. Denn die Zeitung, die die Bonner Republik in ihrem rheinischen Frohsinn mit geprägt hat, will „einen Brückenschlag“ zwischen altem und neuem Regierungssitz schaffen. Die Zeitung, die zu ihrem Leidwesen doch nie Hauptstadtzeitung wurde, beteiligt sich am „Café Mierscheid“ als „Kooperationspartner“, wie es blumig heißt.

Schließlich ist Mierscheid ja nicht irgendwer. Immerhin gibt es ein Gesetz, das nach ihm benannt ist, das Mierscheid-Gesetz: „Der Stimmenanteil der SPD richtet sich nach dem Index der deutschen Rohstahlproduktion der alten Länder – gemessen in Millionen Tonnen – im jeweiligen Jahr der Bundestagswahl.“

Aber Mierscheid ist nicht nur jemand, nach dem man Gesetze benennt. Er ist ist auch jemand, der Gesetzmäßigkeiten von wahrer politischer Größe aufstellt. „Auf einen langen Kanzler folgt ein kurzer, auf einen kurzen wiederum ein langer. Adenauer war lang, Erhard war kurz. Kiesinger war lang, Brandt kürzer. Auf den kurzen Schmidt folgte der lange Kohl. Jetzt ist Schröder kurz“, bilanzierte er im General-Anzeiger.

Mierscheid ist zwar ein Mann mit Westorientierung: Er wollte den Regierungssitz nicht nach Berlin, sondern nach Kaiserslautern verlegt wissen – wegen der guten Anbindung an den Flughafen Ramstein. Aber er wollte den Großkopferten schon immer gerne auf die Finger schauen. Einst schlug er vor, den Bundesrechnungshof von Frankfurt am Main in den Eifelort Filz zu verlegen. Der ist auf der Landkarte schwer zu finden. Und Mierscheid fand auch nicht die nötige Mehrheit.

In seinem Heimatdorf im Hunsrück ist der als bäuerlich geltende Mierscheid beliebt. Der Skatspieler ist Gründungsmitglied des Morbacher Vereins zur Verhinderung von Hunsrück-Erdbeben. Der gelernte Schneider kann trotz aller Freundlichkeit auch geharnischte Briefe schreiben, selbst an die eigene Fraktion. Denn die SPD – und das ist auch wirklich nicht fair, Genossen! – hatte sein Konterfei auf den Plakaten vergessen. Was war das für eine Schmach für den Schinderhannes in seinem Dorf? Mierscheid: „Ich sah mich schon genötigt, in Morbach auf einer Pressekonferenz die Gerüchte über mein Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag zu widerlegen“, schrieb Mierscheid in einem Brief an seine Kollegen.

Nun gut, gestern harrte jedenfalls der umtriebige Papageorgiou des Erscheinens seines Geschäftspartners. Schließlich haben der Grieche und Mierscheid in ihrem Café alles getan, um die Zusammenarbeit von Presse und Politik in Berlin zu verbessern: Ein Leuchtband, auf dem ständig die drei neusten dpa-Meldungen laufen, wurde ebenso installiert wie Faxgeräte, kostenloser Internetzugang und Anschlüsse für Laptops. Wird ein Abgeordneter zur namentlichen Abstimmung im Reichstag aufgerufen, wird er im Café den Gong über die Standleitung hören. Die Debatten werden live übertragen.

Den heimeligen Touch einer echten Kölschkneipe bekommt die Pinte mit politischen Karikaturen und Vitirnen mit Büchern der Ära des politischen Bonns. Das Café wird somit vor allem für die Anlaufpunkt werden, die gegenüber Berlin noch fremdeln. Auf der Karte stehen typische rheinische Gerichte wie Halver Hahn, Röggelchen und Butter – auf gut Deutsch Käsebrot. Und natürlich gibt es ein Hinterzimmer für Politiker und Journalisten – zum Kungeln wie einst am Rhein. Ein guter Ort für den öffentlichkeitsscheuen Mierscheid.

Zitat:

DAS MIERSCHEID-GESETZ:

„Der Stimmenanteil der SPD richtet sich nach dem Index der deutschen Rohstahlproduktion der alten Länder im jeweiligen Jahr der Bundestagswahl“