Die Stunden werden verrinnen

■ Das heutige Spiel des FC St. Pauli ist richtungweisend. Nur: In welche Richtung eigentlich?

Der FC St. Pauli ist die zum Sportverein geronnene Depression. Der so genannte Profiverein versucht zwar tapfer, sein Schicksal zu meistern. Aber letztlich bleiben alle Erklärungsversuche vage, und alle potenziellen Lösungen verschwinden hinter den Anforderungen des Tagesgeschäfts. Fast möchte man dem Klub vom Millerntor eine Auszeit gönnen. „Spielt mal kurz ohne uns weiter“, könnte man sie dann rufen hören, „wir müssen mal eben erstmal unsere Probleme kurz lösen.“

Statt dessen wird nach dem unrühmlichen Abgang von Willi Reimann gerade nicht mutig nach vorne geblickt. „An den 1. Juli denke ich nicht“, verlautbarten gestern Manager Stefan Beutel und Wieder-Interims-Quasi-Dauer-Provisoriums-Anwärter-Neutrainer Dietmar Demuth unisono, „für uns ist erst einmal das Spiel gegen Waldhof Mannheim wichtig.“ Heute Abend (19 Uhr) müssen Demuth und sein Co-Coach Joachim Philipkowski „dasitzen und die Kastanien aus dem Feuer holen“, wie Beutel sich ausdrückte. „Ich hoffe wir schaffen den Klassenerhalt“, das heißt die Kastanien aus Beutels Bild, „schon vor dem letzten Spieltag“, wünscht sich Demuth. Und kann sich sicher sein: Da hoffen viele mit.

Derjenige, der für das ganze Desaster verantwortlich ist, wurde dagegen als Ehrenmann entlassen. Reimann verlässt das leckgeschlagene Schiff im – formulieren wir es vorsichtig – denkbar ungünstigsten Moment, bekommt von seinem Präsident und Gehaltszahler Heinz Weisener noch ein „Ich habe ihn immer geschätzt“ hinterhergerufen und überlässt es seinen Nachfolgern, den Kahn leerzuschöpfen. Aber: Wie sollen die das machen? Ohne Eimer?

Respektive ohne Spieler. „Unser Kader besteht nur noch aus 18 Leuten“, klagt Demuth über das Problem, eine im Abstiegskampf taugliche Mannschaft zusammenzustellen. Nein, er klagt nicht einmal, er stellt einfach nur fest. Ähnlich sarkastisch wirkt seine Bemerkung, dass die Rotsünder von Spiel in Mönchengladbach, Markus Ahlf und Steffen Karl, ersetzt werden müssen: „Es werden zwei Neue in die Aufstellung rücken, zu neunt werden wir nicht auflaufen.“

Ist ja auch nicht nötig, schließlich kann man bei Bedarf auf die Amateure zurückgreifen, die von Philipkowski betreut werden. Allerdings möchte Demuth „mit dem Profi-Kader arbeiten“, alles andere bringe „nur Unruhe in die Mannschaft“. Wobei sich ein Betrachter fragen könnte, wie noch mehr Unruhe in ein Team kommen kann, das schon jetzt fast nur Probleme hat? Demuth kennt sie genau: „Mal ist die rechte Seite das Problem, mal die linke, mal ist es die Mitte.“ Wie soll ein Team ruhig aufspielen, das ohne Trainer, ohne Geld, ohne Lizenz, ohne Verträge und, zur Zeit, ohne Hauptsponsor für die kommende Saison dasteht.

Und ohne Plan. Hat Beutel wirklich gesagt, er denke nicht an den 1. Juli? Den Zeitpunkt, an dem Verträge auslaufen, ein Sparhaushalt durchgesetzt werden muss, ein neuer Coach eingestellt werden soll? Ist nicht genau das seine Aufgabe? Bestimmt näht der Manager entgegen seiner Äußerung schon an der neuen Patchwork-Decke, um den FC St. Pauli schön beschützend darin einzuwickeln. Mehr als Stückwerk kann der Mann im Moment einfach nicht leisten.

Zu beneiden ist er um diesen Job nicht. So hat der Wunschkandidat für das Traineramt, Franz Gerber schon abgesagt. Der Verein kann es sich finanziell nicht leisten, den Schlangenfranz aus seinem bis zum 30. Juni 2002 laufenden Vertrag bei Hannover 96 herauszukaufen.

Aber in Zeiten der Not, der Sorge und der Depression hilft oft ein wenig Basisphilosophie. Wie sagte Stephan Beutel, den Blick dann doch fest auf die Zukunft gerichtet, gestern: „Die Aufgaben kommen, die Stunden werden verrinnen.“ Ein wirklich schönes Wort: verrinnen. Wie im Stundenglas des Sensenmanns. Eberhard Spohd