Ein kurzer Ausflug in die Zwischenzeit

■ Im Winter ist die Insel Helgoland ein bizarrer Ort. Ein erinnerungsträchtiger, vom Winde verwehter Reiseeindruck von Olaf Liebert (Text) und Michael Jungblut (Fotos)

Die letzten Stunden Tageslicht bieten oft eine grandiose Fernsicht. Dann stehen manchmal alte Helgoländer Seite an Seite an der windigen Mauer auf dem Oberland, fünfzig Meter über dem Meer, und befachsimpeln mit ihren Ferngläsern die vielen Schiffe am Horizont. Selbst mit bloßen Augen zählen wir ihrer zehn, und die scheinbare Bewegungslosigkeit und Stille, mit der sie außerhalb unserer Hörweite wie aufgereiht auf der Kimm stehen, lähmt auf merkwürdige Weise das Zeitgefühl.

Sportboote sind jetzt keine in Sicht. Es ist Winter, außerhalb der Segelsaison, und viel zu kalt. Im Yachthafen vor unserem Hotel, Zimmer mit Seeblick gegen Aufpreis, halten die Steganlagen ihren wohlverdienten Winterschlaf an Land. Nur ein paar Möwen ziehen pflichtbewusst ihre Kreise über dem öligen Wasser, ab und zu kullert ein Eletrocar vorbei.

Nichts deutet jetzt auf die sommerliche Betriebsamkeit. Allein Korkenzieher und Kapselheber im schiffsförmigen Obstkorb auf der Fensterbank erinnern uns daran, wie beliebt die Hochseeinsel bei der internationalen Segelgemeinde ist, und warum: Helgoland ist europäisches Zollausland. Jedes zweite Geschäft in der eher an GothÛb oder die Färöerinseln erinnernden bunten Holzhäuserzeile am Hafen ist ein Schiffsausrüster.

In ihren kleinen Schaufenstern drängen sich Parfümschachteln und Zigarrenkistchen, nie gesehene Maltwiskeys und exotische Rum-sorten aus der Karibik. Zuviel Feuerwasser läßt die Scheiben beschlagen. Auch wird nautisches Gerät zum Kauf feilgeboten – nur dass es um diese Jahreszeit niemanden gibt, der es kaufen will. Etwas weiter, im rostigen Gewühl von Containern, Werkstätten und Bootstrailern stoßen wir auf Minilagerhäuser voller Bierkisten und Spirituosenkartons. Alles ist palettenweise hochgestapelt. Gabelstabler fuhrwerken geheimnissvoll dazwischen herum. „Verkauf nur an Schiffseigner oder deren Personal“ – Segeln macht offenbar durstig. Das innere Heiligtum – das spiritus sanctus – Helgolands, hier mag es liegen! Denn ob Schmuggler- und Piratennest, Marinestützpunkt oder moderne Schiffsausrüsterei, der Rum wird in allen Kapiteln der wechselvollen Inselgeschichte eine konstante Größe gewesen sein.

Wir nehmen den Fahrstuhl zum Oberland. Zweimal zwei Meter Neonlicht und zehn Sekunden zum Hallo sagen und Sammelkarten abknipsen. Da sich die Frage nach dem Stockwerk erübrigt, können wir lediglich zwischen einfacher oder Auf- und Abfahrt wählen. Einfach kostet eine Mark. Der Fahrstuhlkapitän hat es sich mit Transistorradio und elektrischer Heizung gemütlich gemacht. Niemand lacht. Wahrscheinlich ist das Ganze hier der Inbegriff des technischen Fortschritts und Tradition zugleich, die Befreiung von der alltäglichen Mühsal des Aufstiegs. Ein kleiner Sieg über die Gravitation. Wenn der Zweischichtbetrieb um 21 Uhr endet, müssen allerdings wieder die Treppen genommen werden.

Zu einem Helgolandaufenthalt gehört zuallererst auch die Umrundung der Insel, das rituelle Abschreiten des Klippenrandweges. Die ehemals ebene Hochfläche ist mit Kratern übersät, hier und da finden sich noch Reste zerbombter Bunkeranlagen. Hier oben geht die Luft scharf, es ist entsetzlich kalt. Wir stemmen uns gegen die Böen, immer wieder peitschen uns Regenschauer ins Gesicht, und die Systemunterwäsche wird auf eine harte Probe gestellt. Vom Hochgebirge führt der Pfad weiter zu den Hochseeinselgartenzwergen des hiesigen Kleinstgartenvereins. Dem eisigen Nordseewind trotzend, wachen sie über Grünkohl und Petersilie. Helgoland ist deutsch, vor über hundert Jahren den Engländern gegen Sansibar abgetauscht. Weniger die Lange Anna, als vielmehr die strategische Lage mochte dabei des Kaisers Interesse an dem Felsklumpen geweckt haben.

Durchgefroren beschließen wir, uns für den bevorstehenden Abstieg zu stärken und kehren ein ins Café Krebs. Hier bedecken unzählige alte Schwarzweißaufnahmen die Wände. Lokalgeschichtliche Werke, mit noch mehr Bildern, liegen zur Ansicht aus. Bratkartoffeln in Butter gebraten sind die Spezialität des Hauses. „Mögt Ihr so was?“ Ja, wir mögen. Und bestellen zwei Portionen mit Fisch.

Auf einem Knabenfoto in Band I identifizieren wir den Wirt. Es ist Benno Krebs, offenbar Historiker und Dorschbräter in Personalunion. Ab und an zeigt das Ehepaar Krebs wohl auch heimatgeschichtliche Heimvideos aus seiner umfangreichen Sammlung: Zusammenschnitte von privatem Super 8 Material, unterlegt mit Shantys und merkwürdigen Kommentaren. Die für heute Abend angekündigte Aufführung jedoch fällt wegen mangelnder Beteiligung leider aus.

Es ist bereits nach 20 Uhr. Eine gute Flasche Weißwein, und zwei „knallfrische“ Dorschfilets verstärken unseren Wissensdrang: Was eigentlich macht der Helgoländer bei Nacht? Butterfahrten gibt's nicht mehr, aber mit der zollfreien Herrlichkeit ist es auch nach der EU-Neuregelung noch lange nicht vorbei. Der Mythos lebt! Und wir hatten erwartet, reichlich betrunkene Hausfrauen vorzufinden, die in üblen Spelunken mit dem Nächstbesten anbändeln, waren gefasst auf schwachsinnige Dialoge bei Eierlikör und Persiko.

Doch vergeblich streiften wir nach Einbruch der Dunkelheit voller Tatendrang durch das Hafenviertel, schlichen durch die verlassenen Gassen des Unterlandes zwischen Strandpromenade und Fußgängerzone, nur um ein paar Scotchterriern zu begegnen. Wir sollten Schwierigkeiten haben, überhaupt ein geöffnetes Lokal zu finden. Von roten Nasen keine Spur. Viele sind sicher geflohen vor der Trisstesse einer leeren Fußgängerzone, in der man sich kaum aus dem Weg gehen kann, wenn keine Invasion Außerirdischer, wie im Sommer, den Ort heimsucht.

Abwechslung tut Not, und wer vom Tourismus lebt, hat jetzt ohnehin nicht allzuviel zu tun. Der Inselkoller droht. Wer kann, lässt sich da lieber selbst ausbooten auf ferne Inseln, wo die Tradition der Seeräuberei noch immer existiert oder zumindest noch nicht bis zur Unkenntlichkeit verfeinert worden ist. Auch in der Inselkajüte dreht sich das Thekengespräch heute Abend um Bali. Hinter zugezogenen Vorhängen diskutieren Daheimgebliebene fachkundig die dortigen Hummerpreise, während unter der Plastikhaube auf dem Tresen lediglich kaltes Kassler lockt.

Handtaschen voller Geld haben jetzt auch die Gäste nicht mehr, suchen sie nächtens, wenn überhaupt, Accis Tanzbar auf. Wehmütig erzählt der Wirt, wie er hier hängen blieb, als es noch hoch herging in den 70ern, wo keiner auf die Mark schaute. Der Mann gegenüber an der Bar, außer uns der einzige Gast, nickt, ohne von seinem Glas aufzuschauen. Und wie um die wilden Zeiten erneut herauf zu beschwören, dudelt Acci einen Schlager nach dem anderen.

Zwischendurch fummelt er immer wieder zärtlich an den vier Reglern seiner Lichtorgel. “Hab' ich vor dreißig Jahren gekauft, und nie abgeschaltet, ist immer gelaufen – englisches Fabrikat!“ Bei uns führt diese Dauerdudelei eher zu Migräne. Wir bestellen noch zwei Rum und erfahren weitere harte Fakten: „Von den circa 1.500 Eingeborenen gehen im Winter nur so um die vierzig abends aus. Gestern gings bis halb sieben! Aber kommt doch später noch einmal wieder! Wir haben hier eben einen Sommer und einen Winter.“ Ein Hinweis auf den Fortlauf der Zeit auch hier. Auf Sommer folgt Winter, folgt Sommer, wie Ebbe und Flut.

Doch am nächsten Morgen wieder diese Zeitlosigkeit. Der Himmel liegt bleiern auf dem Horizont. Es regnet. Auf dem Meer die immer und nie wiederkehrende Einzigartigkeit jeder Welle und jeder Schaumkrone, das endlose Wetter. Gleichgültig murmelt der Radiosprecher die Vorhersagen für morgen wie Beschwörungsformeln. Der Bergungsschlepper ist über Nacht verschwunden, und ganz nebenbei breiten zwei Tornadopiloten im Tiefflug ihren Lärmteppich über uns und die Stille der Nordsee aus.

Als dann, wie immer beim Frühstück, eines dieser Elektrocars in Zeitlupe am Fenster vorbeizieht, der Blaumann darin bewegungslos, fällt mein Blick auf das runde Schild mit der Höchstgeschwindigkeitsangabe: 6 km/h. Ich versuche hieran den Dehnungskoeffizienten der hiesigen Ortszeit zu eichen, und rechne um: Bei 60 km/h durchschnittlicher Geschwindigkeit auf dem Festland, geteilt durch 6, ergibt 10. Ich denke, zumindest für diesen Morgen liege ich einigermaßen richtig. Und als ich später am Tag die Türklinke eines bestimmten Schiffsausrüsters zum dritten Male vergeblich drücke, nehme ich es fast mit Genugtuung zur Kenntnis. Wieder eine Minute zu spät gekommen. Es muss wohl so sein. Ich hätte es wissen können.