Techniker der Umverteilung

Erich Fromm war einer der Säulenheiligen der Achtundsechzigerbewegung. Bücher wie „Die Kunst des Liebens“ oder „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ haben seinen Ruhm begründet. Nächste Woche wäre der Exmitarbeiter des „Instituts für Sozialforschung“ 100 Jahre alt geworden

von MICHAEL RUTSCHKY

Wer sich in den Sechzigerjahren auf die Revolte vorbereitete, von der niemand wusste, dass sie bevorstand, las ein Buch, das im amerikanischen Original 1955 erschienen war, „Eros and Civilization“ von Herbert Marcuse, auf Deutsch „Triebstruktur und Gesellschaft“. Ich war 22 und las das Buch im Strandkorb in Wyk auf Föhr, wo ich alleine Ferien machte, so dass also meine Triebstruktur sehr zu wünschen übrig ließ.

Von Freud selbst wusste man noch wenig. Aber Herbert Marcuse macht mit großer Überzeugungskraft deutlich, dass es der radikale Freud der Triebtheorie und der anthropologischen Spekulation ist, an den sich der junge Mensch halten muss, wenn er, wie das damals hieß, kritisches Bewusstsein entwickeln will. Gesellschaftstheorie war Pop. Die emanzipierte Gesellschaft – so hieß es bei Adorno – war ohne Freud nicht zu denken. Herbert Marcuses philosophischer Beitrag stattete die Freudfraktion der Protestbewegung mit einer Version der Psychoanalyse aus, die nur langsam durch eigene Freudlektüre ersetzt und modifiziert wurde – eine Version, die freilich nie, wenn ich’s mir recht überlege, ganz aufgegeben worden ist.

Herbert Marcuse schloss 1955 mit einer Kritik des neofreudianischen Revisionismus, wie das hieß, die meinesgleichen nicht weniger stark prägte und in deren Zentrum Erich Fromm stand, Marcuses ehemaliger Kollege am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Wie Marcuse war Fromm Mitarbeiter an den monumentalen Studien über „Autorität und Familie“ (1936), worin die Psychoanalyse mit der kritischen Theorie, wie man damals sagte, zu vermitteln war. Seit 1965, seit ich in Wyk auf Föhr Marcuses „Triebstruktur und Gesellschaft“ las, wusste ich, dass Erich Fromm keine fruchtbaren Erweiterungen oder Umarbeitungen Freudscher Gedanken vorgelegt hat. Und ich muss leider sagen, dass es daran nichts zu revidieren gibt, so sehr man auch im Älterwerden Lust bekommt auf die Revision von Positionen, die der junge Mensch mit ganzer Leidenschaft eingenommen hatte.

Erich Fromm, geborener Frankfurter, kam 1930 an das Institut für Sozialforschung, das die Verknüpfung von Psychoanalyse und Soziologie für eine seiner zentralen Aufgaben erkannte, weshalb große Hoffnungen sich auf den neuen Mann richteten, der sogar einen Vertrag auf Lebenszeit erhielt. Fromm schrieb eine Reihe grundsätzlicher Untersuchungen – à la „Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie. Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus“ (1932) –, aber schon 1938, der politisch geschickte Max Horkheimer hatte das Institut in die USA bugsiert, trennte man sich, und Fromm verfolgte seine eigene Karriere. 1949 siedelte er nach Mexiko über, wo er, gewissermaßen unbeaufsichtigt, seine eigene psychoanalytische Gesellschaft aufziehen konnte. 1974 ging er in die Schweiz, wo er 1980 gestorben ist, von einer Gemeinde verehrt und mit dem Ruhm jener Bücher bedeckt, die er nach der Trennung von den Freudianern ebenso wie den Horkheimerischen regelmäßig veröffentlichte: „Die Furcht vor der Freiheit“ (1941), „Psychoanalyse und Ethik“ (1947), „Wege aus einer kranken Gesellschaft“ (1955), „Die Kunst des Liebens“ (1956 – viele Käufer glaubten, das sei ein sexualtechnischer Ratgeber), „Die Seele des Menschen“ (1964), „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ (1973), „Haben oder Sein“ (1976).

Was war passiert? 1942 hat Max Horkheimer, nach den Gründen der Trennung von Fromm befragt, seine Version von Freuds Wissenschaft als reduzierte „Psychologie des gesunden Menschenverstandes“ charakterisiert, und auf so etwas, flaues Denken, läuft auch Marcuses Kritik hinaus. Tatsächlich genügen flüchtige Blicke in die erfolgreichen Bücher, um sich von deren intellektueller Anspruchslosigkeit zu überzeugen. Es handelt sich nicht um psychoanalytische oder soziologische Studien, sondern um zu Buchlänge aufgeschwemmten Predigten guten Wollens.

Nehmen wir diesen frommen Clip aus „Die Kunst des Liebens“ (über dessen gruselige Auswirkungen auf das Liebesleben junger Menschen man mir viel erzählt hat): „Liebe ist nur möglich, wenn sich zwei Menschen aus der Mitte ihrer Existenz heraus miteinander verbinden, wenn also jeder sich aus der Mitte seiner Existenz heraus erlebt. Nur dieses ‚Leben aus der Mitte‘ ist menschliche Wirklichkeit, nur hier ist Lebendigkeit, nur hier ist die Basis für Liebe.“

Kein Zweifel, mit Psychoanalyse hat das nichts zu tun, denn deren Entdeckung war doch gerade, dass der Mensch keine Mitte habe, dass seine Seele vielmehr aus verschiedenen Instanzen bestehe, die alle ihrer eigenen Logik folgen, was einen Dauerkonflikt herbeiführe, der gleichzeitig unsere Beweglichkeit garantieren wie unsere völlige Lähmung bewirken könne. Es kommt also auf den Feinschliff an. Es war der Verlust der animalischen Mitte, sage ich mal grandios, der die menschliche Evolution eröffnete – aber der Unfug der zitierten Definition geht auch jedem Verliebten in der Selbstbeobachtung auf: Liebe kann doch eben gerade dadurch beschrieben werden, dass Ego seine Mitte restlos verloren hat, weil alle Seelenkräfte, von den zartesten bis zu den grobsinnlichsten, in Richtung Alter gravitieren. Wer in dieser Lage Fromms frohe Botschaft liest, gerät in wilde Verzweiflung.

Bevor wir uns das Problem der Frömmigkeit von Fromm anschauen, noch etwas, pardon, Theoretisches. Bei seinen sozialpsychologischen Arbeiten im Institut ließ er sich von der Idee leiten, der Individuum und Gesellschaft vermittelnde Begriff sei „Charakter“ – übrigens ein Modewort der Zeit. Ebenso wie „Weltanschauung“: Und an beidem sollte der wahre Mensch ununterbrochen arbeiten, bis er hier wie dort zu wetterfesten Ergebnissen käme.

Tatsächlich finden sich in Fromms Herkunftsdisziplin, der Psychoanalyse, charakterologische Studien; Freud selbst hatte 1915 „Einige Charaktertypen aus der psychoanalystischen Arbeit“ vorgeführt (die literarisch umschrieben werden: „Die am Erfolge scheitern“ oder „Der Verbrecher aus Schuldgefühl“). Das Problem ist, dass für die psychoanalytische Kur der Charakter eine Art Festung bildet, wo sich alle Fantasien, Triebregungen, Widerstände einer Person verschanzen können. 1933 brachte Wilhelm Reich seinen Ratgeber zur „Charakteranalyse“ heraus, der dem Analytiker ziemlich brachiale Techniken empfiehlt. Charakterzüge sind durch Psychoanalyse so schwer zu beeinflussen wie sexuelle Neigungen, meinetwegen Fußfetischismus; die Kur kann die Schuldgefühle mindern, die das Vergnügen begleiten, die Oberhand behält aber das Vergnügen.

So leuchtet zunächst ein, dass Erich Fromm Individuum und Gesellschaft im Begriff des Charakters vermittelt dachte – bloß beginnt im selben Augenblick der strenge psychoanalytische Begriff des Charakters sich aufzulösen. Denn offensichtlich wird die bürgerliche Gesellschaft und ihre Wirtschaft von einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Charaktere betrieben. Augenscheinlich gehören nicht einmal Geld- und Profitgier notwendig dazu. Also musste Fromm den Begriff des Charakters so weit aufweichen, dass er nur noch vage Durchschnittsbilder irgendwelcher Persönlichkeitseigenschaften zurückbehielt, um sie nach Belieben positiv oder negativ auszuzeichnen.

Man kann es auch schärfer sagen. Erich Fromms intellektuelle Anspruchslosigkeit, sein flaues Denken ersparte ihm die Einsicht, dass die bürgerliche Gesellschaft von Personen und ihren Charaktereigenschaften unabhängig funktioniert. Das war bei Marx ebenso wie bei Max Weber der beunruhigende Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen gewesen; deshalb spricht Marx von „Charaktermaske“: Der Akzent liegt auf Maske, und Max Weber sieht die protestantische Ethik, die einst von Personen entwickelt und gelebt wurde, als „stahlhartes Gehäuse“ erstarrt.

Dagegen stellte sich Erich Fromm das kapitalistische Wirtschaftssubjekt als ein besonders geld- und machtgieriges Scheusal vor. Und das wollte er keinesfalls sein! Womit wir bei seiner Frömmigkeit sind. „Mach mich wie den Erich Fromm“, lautete ein früher Spottvers von Gershom Scholem, Religionswissenschaftler und Freund Walter Benjamins, „dass ich in den Himmel komm.“

In Erich Fromms Herkunftsfamilie finden sich von der Großvaterstufe an rückwärts viele bedeutende Rabbiner; einer, Seligmann Bär Bamberger, genannt der „Würzburger Raw“, muss in Fromms Familienroman eine wichtige Rolle gespielt haben. Schon in Frankfurt widmete sich Fromm leidenschaftlich Talmudstudien. In Heidelberg, wo er bei Alfred Weber, dem Bruder von Max, promoviert, ist er Mitglied des legendären „Torapeutikums“, das Frieda Reichmann, die er heiratete, als psychoanalytisches und zugleich jüdisch-orthodoxes Sanatorium betreibt. Dass Fromm seit 1926 diese Orientierung aufgibt (und sich für den Zenbuddhismus interessiert), sagt wenig. Ich möchte Frömmigkeit für einen Charakterzug von Erich Fromm halten.

Es ist eine strikt am eigenen Seelenheil orientierte Frömmigkeit. 1979 lässt Fromm einen Interviewer wissen, dass ihm schon als Kind Geschäftsleute, die ihr Leben dem Gelderwerb widmen, fremd und unverständlich waren: Seine Seele war von vorneherein gegen die Verfehlungen der modernen Welt gefeit. Bei Fromms Totenfeier 1980 ging es um die zehn Gerechten, um deretwillen Gott die Zerstörung der Stadt unterlassen würde, wenn sie sich in Sodom fänden. Ich habe nicht richtig verstanden, ob Erich Fromm einer von ihnen war oder gleich Abraham.

Kurzum, Erich Fromm gehört mit seinem Denken und seinem besten Wollen in die Geneaologie des „Gutmenschentums“ (Kurt Scheel), das sich eigene Techniken zurechtgelegt hat, um die Schuld und das Unglück, womit die moderne Welt ihre Mitglieder belädt („Schuldzusammenhang“ nennt das die Kritische Theorie), von sich auf die anderen umzuverteilen, und das eigene Wollen von allen schwarzen Anteilen zu reinigen. Im Neuen Testament ist das der Pharisäer, der Gott dafür dankt, dass er nicht so ist wie jene. Wären in der Welt, darf der Frommjünger schwärmen, nur mehr Menschen wie ich und der Meister, so hätten wir eine bessere Welt. Es ist diese Art von narzisstischer Frömmigkeit, die dumm macht.

So erklärt sich, dass Fromms Schriften weder Psychoanalyse sind noch Soziologie. Es handelt sich, wie gesagt, um Predigten, die eine Gemeinde versammeln und sie zur Einkehr und Umkehr mahnen. Haben oder Sein? Na, Sein natürlich – haben wollen vor allem die anderen Leute, hinter jenen Bergen, wo es ganz übel zugeht. Der ehrwürdige Gedanke, der aus der Arbeiterbewegung stammt und noch die Kritische Theorie inspiriert hat: dass die Menschen mit ihren menschlichen Bedürfnissen gegen das System mit seinen systemischen revoltieren könnten – diesen Gedanken hat sich eine Distinktionsideologie angeeignet und damit zerstört.

Zum Schluss ein kleines Potpourri der Charakterbilder, die Erich Fromm mit der Chuzpe eines Feuilletonisten angefertigt hat, der kulturkritische Diagnosen auswirft. Ich collagiere nach einem Sammelband („Erich Fromm heute“), mit dem die Gemeinde den Meister für sein bestes Wollen ehrt. „Die autoritäre Charaktergesellschaftsorientierung ist durch Herrschaft gekennzeichnet. Die Marketingcharaktergesellschaftsorientierung will sich immerzu konformistisch anpassen an das, was der Markt, was andere verlangen, ohne sich zu binden oder zu identifizieren. Die leicht narzisstische Charaktergesellschaftsorientierung folgt im Umgang mit anderen der Grundstrebung, den anderen für die eigenen Bedürfnisse zu verzwecken. Die produktive Charaktergesellschaftsorientierung ist von der leidenschaftlichen Grundstrebung bestimmt, auf andere, die Natur und sich selbst in liebender und vernünftiger Weise bezogen und mit seinen menschlichen Eigenkräften kreativ tätig zu sein.“ Dann ist ja alles in Butter.

MICHAEL RUTSCHKY, 56 Jahre, lebt als Essayist und Buchautor („Lebensroman“, Steidl, Göttingen 1998, 304 Seiten, 38 Mark) in Berlin. Er schreibt uns: „Leserbriefe, die mir anhand dieses Artikels meine Charaktergesellschaftsorientierung vorrechnen, werden kostenpflichtig zurückgesandt. Retourkutsche gilt nicht.“Literatur: „Erich Fromm. Gesamtausgabe in zwölf Bänden“ (hrsg. von Rainer Funk). dtv, München 1999, 6.360 Seiten, 248 Mark. Rainer Funk: „Erich Fromm – Liebe zum Leben“. DVA, Stuttgart 1999, Bildbiografie, 176 Seiten mit 257 Fotos, 58 Mark. Rainer Funk (Hrsg.): „Erich Fromm heute“. dtv, München 2000, 251 Seiten 21,50 Mark.Erich Fromm im Internet: www.erich-fromm.de