Kein Zeichen von Alarm

Den Parteien läuft das Volk davon. Diese Entwicklung beschränkt sich nicht auf die Union und hat längst nicht nur mit spontanem Ekel angesichts eines Finanzskandals zu tun. Es ist auch nicht die gern beschworene Politikverdrossenheit, die die Distanz zwischen Bürgern und Politikern vergrößert. Es ist vielmehr die Einsicht, dass politische Entscheidungen eher in informellen und unkontrollierbaren Gremien getroffen werden als in den demokratisch gewählten. Dies ist die eigentliche Krise. Sie ist alarmierender als ein Finanzskandal

von BETTINA GAUS

Alles ist wieder gut. Die Republik kehrt zur Tagesordnung zurück. Die Regierung regiert, weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit. Die FDP übt die interne Demokratie. Die CDU berauscht sich am eigenen Willen zur Erneuerung. Neue Enthüllungen im Zusammenhang mit ihren schwarzen Konten werden nur noch zweispaltig vermeldet und sind auf die hinteren Seiten der Tageszeitungen gerutscht. Der Finanzskandal, der das politische System zu erschüttern drohte, dürfte einer von vielen Stürmen im Wasserglas bleiben.

Ohnehin hatte die Affäre von Anfang an viele Beobachter in dem beruhigenden Gefühl bestätigt, dass im Grunde doch hierzulande alles in Ordnung ist: „Politische Moral ist in erster Linie eine Frage der demokratischen Institutionen“, schrieb in der taz Friedhelm Hengsbach, jesuitischer Professor für christliche Gesellschaftsethik, und er fuhr fort: „Die sind trotz der Beulen, die die CDU ihnen verpasst hat, intakt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Die Medien stellen Öffentlichkeit her. Das Parlament mistet aus. Wer das Recht gebrochen hat, wird bestraft.“

Ist das so? Wer den Skandal vor dem Hintergrund des Ausmaßes an Verachtung betrachtet, das derzeit Bürgerinnen und Bürger gegenüber der politischen Klasse insgesamt zum Ausdruck bringen, der hat wenig Anlass zur Freude über angeblich funktionierende Institutionen.

Umfragen zufolge hält eine große Mehrheit der Deutschen politische Entscheidungen für käuflich, und zwar unabhängig davon, welche Partei gerade im Ruder ist.

Diese Einschätzung mögen viele Angehörige des politischen Betriebes zu Recht für unfair halten. Das macht sie nicht weniger alarmierend. Aber ist jemand alarmiert? – Ach was. Die Rivalen der Union verfolgten das sich langsam entfaltende Kriminalstück der CDU genüsslich im Sessel zurückgelehnt. Angesichts der Tatsache, dass nicht alle an dem Ast gesägt haben, auf dem sie sitzen, scheint nur wenigen bewusst zu sein, dass man von einem Ast auch herunterfallen kann, weil er morsch geworden ist.

Kaum jemand mochte im Zusammenhang mit der Spendenaffäre von einer Krise des Systems reden. Stattdessen wurde der Skandal schnell ausschließlich auf die handelnden Personen zugespitzt und auf das „System Kohl“ reduziert. Die Historisierung legt nahe, Vergleichbares könne sich in den neuen Zeiten der Berliner Republik nicht mehr wiederholen. Glaubt irgendjemand wirklich, dass irgendjemand das glaubt?

Niemand wird so mächtig, wie Helmut Kohl es am Ende seiner Amtszeit als Bundeskanzler gewesen ist, ohne dass diese Macht auch strukturell im Interesse von Gruppen und Organisationen liegt, die ihrerseits innerhalb des Staatswesens über großen Einfluss verfügen. Forderungen nach einem Verbot von Unternehmensspenden, wie sie neben anderen von Altbundeskanzler Helmut Schmidt erhoben worden sind, wurden über Parteigrenzen hinweg eilfertig von führenden Politikern als gänzlich unrealistisch abgetan. SPD-Generalsekretär Franz Müntefering nannte Unternehmensspenden unverzichtbar, wenn die Parteien „ausreichende“ Handlungsmöglichkeiten behalten sollen.

Aber wie viel Fahnen, Plakate, Anstecknadeln, Flugblätter und Musikbegleitungen benötigt die Demokratie? – Parteifunktionäre dürften die Frage für demagogisch halten. Schließlich werde doch Geld nicht in erster Linie für Werbezwecke benötigt, so argumentieren sie gern, sondern für öffentliche Foren, Fortbildungsmaßnahmen, die Vergabe von Aufträgen für umfassende Studien und vieles mehr.

Der politische Diskurs lasse sich nicht kostenlos organisieren. Nein, er lässt sich gewiss nicht kostenlos organisieren – aber eben auch nicht mit Geld allein. Gegenwärtig werden die Parteien aus anderen als finanziellen Gründen ihrer Aufgabe nicht gerecht, den demokratischen Meinungsbildungsprozess zu kanalisieren. Immer mehr Themen werden von führenden Politikern für zu wichtig erklärt, als dass sie zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen werden dürften.

Nicht die Kontroverse, sondern der Konsens ist das Zauberwort der Zeit. Das gilt für die Einführung des Euro ebenso wie für die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme und die Steuerreform.

Je bedeutsamer politische Fragen sind, je mehr sie unmittelbar in das Leben der Bevölkerung eingreifen, in desto stärkerem Maße werden sie inzwischen dem Parteienstreit entzogen. Zwänge, die sich sowohl aus dem föderalen System der Bundesrepublik als auch aus ihrer Einbindung in supranationale Organisationen ergeben, haben den Handlungsspielraum der politischen Parteien schrumpfen lassen. Aber wird das von den Akteuren bedauert oder begrüßt?

Die Krise im Kosovo solle nicht Gegenstand von „kleinlichem Parteiengezänk“ sein, mahnt der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber in einer Fernsehdiskussion und gibt damit zu erkennen, was er vom hierzulande üblichen Prozess der demokratischen Willensbildung und ihren Institutionen hält. Nichts. Die beharrliche Demonstration prinzipieller, parteiübergreifender Übereinstimmung in allen wesentlichen Fragen hat weit reichende Folgen. Ob Euro oder Kosovokrieg: Die Zahl der Themen wächst, bei denen sich ein nennenswerter Teil der Bevölkerung mit seiner Ansicht im Parlament nicht einmal mehr annähernd proportional vertreten sieht.

Wie groß darf die Distanz zwischen Regierenden und Regierten in einer Demokratie sein?

Das sichere Bewusstsein, am besten zu wissen, was gut ist fürs Volk, ist früher nicht für ein konstituierendes Merkmal dieser Staatsform gehalten worden. Das parteiübergreifende Bedürfnis nach Übereinstimmung steht in eigentümlichem Gegensatz zu den großen Worten, derer sich Medien und Politiker bei der Beschreibung des Tagesgeschäfts bedienen. Denen zufolge geht es auf der politischen Bühne wild zu. Beinahe wöchentlich finden Entscheidungsschlachten statt. Irgendjemand befindet sich immer im Fegefeuer oder liegt in einem Schützengraben. Ein anderer steht mit dem Rücken zur Wand und kämpft ums Überleben, während über seinem Kopf nicht weniger als ein Damoklesschwert hängt.

„Wir waren alle am Schwimmen in der eiskalten Grönlandsee, verfolgt von hungrigen Eisbären.“ So schildert Außenminister Joschka Fischer die erste Zeit nach dem Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung.

Je wolkiger Auskünfte zu konkreten Fragen der Tagespolitik ausfallen, desto melodramatischer wird das Gesamtszenario beschrieben und die Flammenschrift an der Wand beschworen. Es ist kein gekränkter Gott, der verhindert, dass diese gelöscht wird. Vielmehr folgen die Menetekel in so rascher Folge aufeinander, dass man mit dem Schwamm gar nicht mehr nachkommt.

Vergebliche Mühe. Das Publikum ist zu oft mit letzten Schicksalsfragen und endgültigen Entscheidungen konfrontiert worden. Es wendet sich gelangweilt ab.

„Wir sind nicht klüger als die anderen. Wir sind aber auch nicht dümmer.“ Treffender als mit diesen lapidaren Sätzen lässt sich die neue intellektuelle Bescheidenheit der deutschen Parteien und ihrer Spitzenkräfte kaum beschreiben. Der FDP-Vorsitzende Wolfgang Gerhardt hatte allerdings auf dem Parteitag 1997 nur über die eigenen Reihen gesprochen. Aber der Anspruch scheint nicht nur den Liberalen, sondern auch anderen zu genügen. Nicht klüger, nicht dümmer als die Rivalen: Das wird fürs parlamentarische Überleben schon reichen. Wie lange kann das reichen?

Das Ende der bipolaren Welt und die neue Weltwirtschaftsordnung hat die Parteien ihrer weltanschaulichen Grundlagen beraubt, die sie nach innen einigten und mit denen sie sich nach außen von anderen Parteien abgrenzen konnten. Die Ansicht ist inzwischen sehr weit verbreitet, dass die alten Kategorien von „rechts“ und „links“ seit dem Ende des Kampfes der Systeme nicht mehr gegenwartstauglich seien.

Ist das wirklich so? Und meinen all diejenigen, die davon überzeugt sind, eigentlich dasselbe? Aus dem Hinweis auf die Fragwürdigkeit der alten Begriffe leitet bisher keine der Volksparteien die Notwendigkeit ab, in einer offenen Grundsatzdiskussion eine neue Standortbestimmung vorzunehmen. Er wird im Gegenteil seit Jahren als Schlupfloch benutzt, um genau diese Diskussion zu vermeiden.

Doch jetzt laufen den politischen Parteien die Parteigänger davon. Die traditionell den Volksparteien zuneigenden Milieus sind so groß, dass es diesen leichter fällt als den kleineren Gruppierungen, die Entwicklung zu verschleiern. Aber die Erosion hat eingesetzt, und dieser Prozess ist schwer zu stoppen, hat er erst einmal begonnen. Wenn jedoch individuelle Professionalität und nicht die Qualität des Programms zum Gradmesser für gute Politik wird, gibt es keinen Grund mehr, handwerkliche Fehler zu verzeihen. Die Zahl der Wechselwähler steigt beständig. Manche Wahlforscher, Journalisten und sogar Politiker sehen darin ein Zeichen politischer Reife. Das ist kurz gedacht. Die Stammwähler vergangener Tage haben auch nicht jede tagesaktuelle Entscheidung ihrer Partei bejubelt. Aber von einer politischen Gesamtrichtung trennt man sich schwerer als von der Zustimmung zu einem einzelnen Politiker, der enttäuscht.

Mit politischer Reife hat das nichts zu tun. Allenfalls mit der Einsicht in die eng gesteckten Grenzen der eigenen Einflussmöglichkeiten. In steigendem Maße verlagern sich Diskussionen von allgemeinem öffentlichem Interesse exklusiv in die Kreise der Experten hinein. Selbst Parlamentarier trauen sich immer seltener ein Urteil in Fragen zu, die über ihr unmittelbares Spezialgebiet hinausreichen.

Konsequenterweise verlagert sich auch die politische Macht immer stärker von formalen Institutionen wie dem Parlament in informelle Gremien hinein, die weder von der Verfassung vorgesehen sind noch der öffentlichen Kontrolle unterliegen. Ob beim Bündnis für Arbeit etwas herauskommt, hat erheblich größere Bedeutung als jede Bundestagsdebatte. Die politische Klasse untergräbt selbst die Institutionen, die sie tragen.

Der Verdacht, mit eigenen Ansichten und Forderungen nicht ernst genommen, sondern nur noch als Stimmvieh missbraucht zu werden, erfasst inzwischen Wählerinnen und Wähler des gesamten politischen Spektrums. Der Finanzskandal der CDU hat eine Stimmung, die gern mit dem gängigen Modewort „Politikverdrossenheit“ bezeichnet wird, nur verstärkt. Nicht aber verursacht. Er hätte den Parteien eine Chance bieten können, die Gründe für den Vertrauensschwund ihnen gegenüber ganz unabhängig von der jeweiligen Verstrickung in die Affäre zu beleuchten. Diese Chance scheint vertan.

BETTINA GAUS, 43, ist politische Korrespondentin der taz. Der Text basiert auf Thesen des Buches „Die scheinheilige Republik. Das Ende der Streitkultur“ von Bettina Gaus, das soeben erschienen ist (DVA, München 2000, 184 Seiten, 34 Mark)