Kein Bock auf Bockspringen

Schulsport ist langweilig, abschreckend, zu leistungsorientiert. Sagen die Kritiker. Damit die Schüler wieder Lust am Sportunterricht finden, sollen neue Konzepte und Sportarten her. Zum Beispiel Tai Chi, Walking und Inline-Skaten

von REINER LEINEN

Unmut macht sich breit. Artur will nicht schon wieder im Barren hängen, und Kathrin hat keinen Bock aufs Bockspringen. Sebastian quält sich die Reckstange hoch. An der Mattenbahn würgen ein paar Schüler widerwillig eine Radwende hin. Ein halbes Dutzend Mädchen und Jungen haben Atteste dabei und sich von allem Übel befreit.

Szenen des Alltags im Sportunterricht. Schon seit geraumer Zeit kränkelt er vor sich hin. Doch nun herrscht plötzlich Aufregung in den Sporthallen der Republik. Neue Lehrpläne sollen für Genesung sorgen. In Nordrhein-Westfalen sind sie schon in Kraft getreten. Das war längst überfällig.

Seit zwei Jahrzehnten hagelt es Kritik. Dem Schulsport wird die rote Karte gezeigt. Abgesehen von den Einlassungen der Unverbesserlichen, die Sportunterricht immer schon für eine entbehrliche Veranstaltung hielten, gibt es auch substanziellere Deutungsversuche. Deren Gehalt: Zu konkurrenz- und wettkampforientiert werde Sport in der Schule betrieben; mit der Überbetonung des „schneller – höher – weiter“ und mit alten Methoden würden solche Kinder und Jugendliche abgeschreckt, die Bewegung am nötigsten hätten. „Leichtathletik hieß bei uns immer nur: im Kreis rennen – bis zum Kotzen“, berichtet etwa die 17-jährige Janina aus Dortmund.

Zudem stünde, so ein weiterer Kritikpunkt, nur das traditionelle Angebot der Vereinssportarten im Mittelpunkt. Schulischer Sportunterricht kann einen Teil der Schülerschaft, die sich nachmittags in Halfpipes, auf Inlinern und beim Streetball bewegen, nur noch sehr bedingt erreichen. Niemand will mehr in nervenden Übungsreihen an die Errungenschaft des Kippaufschwungs rücklings-rückwärts herangeführt werden.

Was Schüler im schulischen Sportunterricht lernen konnten, war ein systematisches Üben innerhalb ausgewählter Sportarten, sodass sie letztendlich – etwa zum Abitur – manchmal bessere Sportler waren. Zu wenig, wie viele Kritiker meinen. Der Hauptvorwurf an den Schulsport nämlich lautet: Er nutzt die ihm innewohnenden pädagogischen Chancen gar nicht.

Dieser Überlegung tragen neuere Konzepte Rechnung. Sie verabschieden sich vom herkömmlichen Sportartenprinzip. Stattdessen wählen sie einen bewusst pädagogischen Blickwinkel und bekennen sich zu einem „erziehenden Sportunterricht“, so Dr. Heinz Aschebrock vom Landesinstitut für Schule und Weiterbildung in Soest. Wertevermittlung rückt fortan in den Vordergrund. Der neue Sportunterricht soll von kritischer Reflexion des eigenen sportlichen Tuns begleitet werden. Einem solchen Schulsport liegt ein paradoxes „Zurück in den Fortschritt“ zugrunde, wie Sportlehrer Peter Meurel die Stoßrichtung der neuen Vorgaben umschreibt.

Endlich, so der Pädagoge, knüpfe Sportunterricht wieder stärker an der ursprünglichen Vorstellung an, wesentlich zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen zu können. Er tut dies, indem er zurückkehrt zu den „Wurzeln von Sport und Bewegung, nämlich Laufen, Springen und Werfen, zu basalen Körpererfahrungen wie Rollen und Schwingen, zur Auseinandersetzung mit der Umgebung (Wasser, Eis, Schnee), zum Spielen mit und ohne Ball.“

Neue Inhalte sollen her: Roll-, Boots- und Wintersport, auch Bewegungskünste wie Jonglage und Akrobatik als lockere Variante des Turnens sowie Entspannung und Meditation. Tai Chi ist jetzt ebenso denkbar wie das Erproben von Spielen anderer Kulturen, Bewegungstheater und Powerwalking oder Skateboard fahren. Beabsichtigt ist nicht nur eine „Öffnung der Schule hin zur außerschulischen Bewegungskultur, sondern auch eine größere Flexibilität im Hinblick auf künftige Entwicklungen“, sagt Aschebrock.

Erste Signale aus den Schulen deuten darauf hin, dass der Neuansatz bei den SchülerInnen Wirkung zeigt. Anscheinend lassen sich nun auch wenig sportbegeisterte Mädchen und Jungen mehr als bislang für den Sport gewinnen, da sich durch die Absage an eine bloße Leistungsorientierung Stigmatisierungen vermeiden lassen.

„Es hat Spaß gemacht“, sagt Janina, „eine ganz neue Erfahrung!“ Sie hat einen mehrwöchigen Unterricht miterlebt, bei dem Laufen und Springen als vielseitige Erlebnisfelder erfahren werden konnten. Eine Stoppuhr und ein Maßband hat sie in dieser Zeit nicht zu Gesicht bekommen.

Unter SportlehrerInnen sind aber auch skeptische Stimmen zu hören: „Wie kann bei all dem wünschenswerten Nachdenken über das Phänomen Sport gewährleistet werden, dass das Eigentliche, die Bewegung, nicht zu kurz kommt? Und: Gibt es innerhalb einer hoffnungslos überalterten Sportlehrerschaft überhaupt so viel Innovationspotenzial? Wie lassen sich die neuen Ideen den Schülern nahe bringen? „Die schiere Existenz eines neuen Lehrplans wird Siebtklässler, die bislang zu Stundenbeginn vehement ,Fußball, Fußball!‘ skandierten, nicht dazu verleiten, in Zukunft die ,Verbesserung der Wahrnehmungsfähigkeit durch die Schulung koordinativer Fähigkeiten im Fußball‘ einzufordern“, sagt Aschebrock. Die hehren Ziele müssen sich mit der Wirklichkeit in den Schulen verbinden.

Wichtig dabei: die Sportlehrerinnen und Sportlehrer. Ihnen wird durch die neuen Richtlinien viel mehr abverlangt. Sie werden wieder stärker als Pädagogen gefordert. Viel Kooperationsbereitschaft wird vonnöten sein. Die oft belächelte Lehrermentalität („Richtlinien kommen und gehen, mein Unterricht bleibt bestehen“) wird infrage gestellt. Damit wäre ja in den Schulen schon einiges gewonnen. Und am Ende macht vielleicht sogar Bockspringen wieder Bock.