Das Volk löst Kohl ab

Bei der Feierstunde zum Jahrestag der Volkskammerwahl werden die Bürgerrechtler mehr gewürdigt als der Wendekanzler Kohl – auch eine Folge der CDU-Spendenaffäre

DRESDEN taz ■ Eigentlich interessierten sich alle nur für das Mienenspiel von Helmut Kohl. Doch bei der Sonderveranstaltung des Bundestags zum zehnten Jahrestag der ersten freien DDR-Volkskammerwahl bemühten sich die Festredner, möglichst wenig über den Mann zu sprechen, der damals seinen größten Triumph feierte und gestern als nur noch einfacher Abgeordneter in nur noch der dritten Reihe saß.

So erwähnte Bundestagspräsident Thierse (SPD) Kohl mit keinem Wort und pries stattdessen die Verdienste der ostdeutschen Bürgerbewegung. Die friedlichen Revolutionäre hätten die erste freie Wahl in der DDR überhaupt erst möglich gemacht: „Der Staat in seiner Allmacht wurde vom Sockel geholt und zur Sache der Bürger gemacht.“

Thierse dankte den anwesenden ehemaligen Abgeordneten der Volkskammer für „ihren Mut, ihre zivile Gesinnung, ihren Einsatz und ihr Vorbild“. Der erste und letzte frei gewählte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU) betonte, die Wahl vor zehn Jahren sei auch eine Abstimmung über die Einheit gewesen. Sachsen-Anhalts Regierungschef Höppner (SPD) wies auf die Leistungen der Volkskammer hin: „Dass die friedliche Revolution in demokratisch geordneten Bahnen zur deutschen Einheit führte, das ist ein Verdienst dieser Volkskammer.“ Dabei hatte vor der Wahl vor zehn Jahren niemand erwartet, dass alles so schnell gehen würde.

Die Ossis waren und sind nur schwer berechenbar. Das bekamen die Demoskopen damals als Erste zu spüren: Sechs Wochen vor der Volkskammerwahl am 18. März 1990 hatten die Meinungsforschungsinstitute den Sozialdemokraten noch einen glänzenden Sieg vorausgesagt. Der Blockflöte CDU räumten sie gerade mal vier Prozent ein. Doch es kam alles ganz anders.

Im kurzen, aber heftigen Wahlkampf ging es nicht mehr darum, ob sich beide deutschen Staaten vereinigen sollen. Allein das „Wie“ war strittig und zentrales Wahlkampfthema. Die SPD warb für eine „Einheit in Schritten“ und mit Volksentscheid, die PDS für eine „Einheit unter Vorbehalten“. Den einfachsten und schnellsten Weg versprach das Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ aus DSU, CDU und dem Demokratische Aufbruch (DA): die „Einheit durch Beitritt“. Das gab letztlich den Ausschlag: Mit 48 Prozent fuhr die Allianz einen grandiosen Wahlsieg ein. Die PDS erreichte über 16, die SPD knapp 22 Prozent. Der Bund Freier Demokraten kam auf gut fünf, die unter dem Titel „Bündnis 90“ zusammengeschlossene Bürgerbewegung auf nicht einmal drei Prozent.

93,4 Prozent der Ostdeutschen hatten ihre Stimme abgegeben – fast so viele, wie die SED sich stets zurechtgefälscht hatte.

Insgesamt 163 Gesetze und 93 Beschlüsse verabschiedete die letzte Volkskammer in ihrer knapp halbjährigen Geschichte. Ein beachtlicher Schnitt. In ihrer letzten Legislatur schaffte es die Regierung Kohl im halben Jahr durchschnittlich auf 70. Von den vielen turbulenten Sitzungen wird vor allem die des 17. Juni in Erinnerung bleiben. Erstmals hatte das Parlament der DDR die Abgeordneten des Parlaments der BRD eingeladen. Nach der gemeinsamen Feierstunde im Schauspielhaus tagte die Volkskammer unter den Augen von Rita Süssmuth und Helmut Kohl. Vielleicht wollte die DSU den beiden besonders imponieren: Sie stellte den Antrag, sofort der Bundesrepublik beizutreten. Was natürlich nicht ging – die Zwei-plus-Vier-Gespräche hatten noch keine Einigung erzielt – und deshalb zu Tumulten führte. „Vielleicht die schwierigste Situation des Parlaments“, schätzt die damalige Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl heute. Angesichts des starken Drucks aus der Bevölkerung konnte der Antrag schlecht abgewiesen werden. Nach eilig zusammengerufenen Fraktionssitzungen – das Fernsehen übertrug auch diese live – wurde der Antrag schließlich in die Ausschüsse überwiesen. NICK REIMER