Erinnerungsarbeit von Angesicht zu Angesicht

Sie sind Nachkommen der Täter, Nachkommen der Opfer, Nachkommen des Holocaust. Seit 1996 treten sie in einen Dialog miteinander, um verstehen zu lernen. Die Organisation „One by One“ gibt diesem Dialog ein Forum und trägt es in die Öffentlichkeit. So auch an eine Schule in Michendorf bei Berlin
von FRANZISKA REICH

Ilse Lazar schrieb in zierlichen Buchstaben: „Lieber Osterhase, bitte bringe mit Eier und ein Päckchen gummiertes Glanzpapier. Heil Hitler.“ Das war 1936. Ilse Lazar war sieben Jahre alt und ging in die zweite Klasse. Sie schrieb weiter: „Am Sonntag ist Wahl. Da zeigen alle Leute dem Führer, dass ihnen alles recht ist, was er tut. Liebe Eltern, gebt auch Ihr Adolf Hitler eure Stimme.“ Ilse Lazar war Jüdin. Ihre Eltern waren Juden und wenig später mussten sie aus Deutschland emigrieren.

Ilse bewahrte das deutsche Schulheft und gab es ihrer Tochter Deborah, die es weiter bewahrte. Deborah hatte Angst vor den Deutschen. Sie hasste Deutschland. Lange Zeit. Heute sagt sie: „Ich habe deutsche Freunde, denen ich vertraue und mit denen ich darüber reden kann, was uns passiert ist.“

Deborah ist Amerikanerin, in den Fünfzigern und Mitglied bei der Organisation One by One, einem Forum für den Dialog von Nachkommen der Opfer und Nachkommen der Täter des Holocaust.

In einer Broschüre erklärt die Organisation ihr Konzept: „Wir müssen uns daran erinnern, dass der Holocaust nicht die Zahl sechs Millionen repräsentiert. Er bedeutet: ein Mensch und noch ein Mensch und noch ein Mensch ...“ One by One. Die drei Punkte sind entsetzlich.

Deborah sitzt neben ihrer deutschen Freundin Inge. Die beiden Frauen haben Platz genommen auf zwei deutschen Schulstühlen an einem deutschen Schultisch und erzählen dreißig Schülern des Michendorf Gymnasiums im Südosten Berlins von ihren persönlichen Erfahrungen mit dem Holocaust. Als Nachkommen.

Es ist ruhig im Klassenzimmer. Und warm und stickig. Die Schüler gehen in die zwölfte und dreizehnte Stufe, wissen viel über den Holocaust und wollen so viel mehr erfahren. Sie fragen auf Englisch, stocken manchmal, gestikulieren auf der Suche nach den passenden Worten, und Inge antwortet manchmal auf Deutsch.

Eine Schülerin in knallrotem Pullover und knallroten Schuhen fragt Deborah: „Wie fassen Ihre Eltern auf, dass Sie nach Deutschland fahren?“ Und Deborah erzählt, dass auch ihr Vater vor einigen Jahren nach Deutschland reiste. Er fuhr in das Dorf, aus dem er mit seinen Eltern hatte fliehen müssen. Die zerstörte Synagoge war inzwischen wieder aufgebaut, die Feier zur Einweihung war schön, und der Bürgermeister hatte früher mit dem Vater Fußball gespielt. Er hieß ihn willkommen. Die Zeitung berichtete über die Synagogenfeier. Vierzig Jahre zuvor hatte sie seinen Vater als „Parasit“ bezeichnet und zum Boykott seiner Firma aufgerufen. 43 Juden waren aus diesem Dorf deportiert worden.

Michendorf ist auch ein Dorf, Es liegt bei Beelitz bei Berlin. Braunes Berlin, dessen Name keiner spricht, ohne zu erinnern, dass braun nicht nur eine Farbe ist. Beelitz erinnert nur an Spargel und Michendorf an Beelitz. Die Schule stammt aus einer Zeit, in der Mittagessen noch Schulspeisung hieß und Politik „Stabü“.

Für Inge hieß das Schulfach immer Politik, weil sie aus dem Westen kommt. Sie ist sechzig Jahre alt, trägt eine Brille und ihr graues Haar als Kurzhaarschnitt und erzählt von ihrem Vater. Was sie als Kind von ihm begriff: Dass der Vater die Familie verlassen hatte, weil er Nazi war. Was sie noch als Erwachsene fühlte: Dass der Vater seine Frau in tiefe Trauer stürzte, in der sie fünfzig Jahre lang versank. Dass der Vater seine Kinder alleine ließ wegen einer mörderischen Ideologie. „Er ist im Krieg geblieben“, sagte die Mutter dem Kind. Sie sagte: „Wir haben aufs falsche Pferd gesetzt.“ Inge hasste ihren Vater dafür. Lange Zeit. Heute sagt sie: „Inzwischen kann ich an meinen Vater denken, der auch liebender Vater und Ehemann war und nicht nur Nazi.“

Ein ehemaliger Hitlerjunge erzählt von seinem Wunsch, Offizier zu werden

Ein Schüler rennt die grau gesprenkelten Schultreppen hinab. Sein schwarzer Mantel flattert und die schwarze Fototasche schaukelt an seiner Schulter. Er wurde dazu verdonnert, die Gäste und die Gesprächsrunden zu fotografieren. Die Schüler konnten sich eintragen in Listen, um an den Gesprächen mit den One-by-One-Mitgliedern teilzunehmen. Es wollten mehr Schüler kommen als die Räume Platz boten.

Der Jugendliche im schwarzen Mantel rennt durch den Gang, eine andere Treppe hinauf zum nächsten Fototermin. Auch dieser Klassenraum ist brechend voll. Die Gardinen sperren froschgrün die Sonne aus, und die kämpft tapfer um jeden Strahl, den sie durch die graue Wolkenwand schicken kann. Doch es ist März und sie verliert.

Gottfried Leich spricht. Er trägt einen grauen Bart und ein Lächeln und das Gefühl von Schuld, denn er gehört zur Seite der Täter. 1945 war er 16 Jahre alt, Hiltlerjunge und von dem Wunsch beseelt, Offizier zu werden. So erlernte Leich im SS-Lager Alpenland die Feinheiten nationalsozialistischer Kriegsführung und Ideologie. Eines warmen Maientages sagte ein Offizier: „Der Führer ist tot. Ihr könnt nach Hause gehen.“ Da schnitt sich Gottfried Leich die Hosenbeine ab, trennte sorgfältig die Abzeichen von der Uniform und machte sich auf den Weg nach Hause. Seine Tarngeschichte: Er komme von der Kinderlandverschickung.

Leicht erzählt: „Meine Erinnerung weiß, das habe ich getan. Mein Stolz sagt, das kann ich nicht getan haben. So etwa hat das Nietzsche formuliert, und es traf auf mich zu.“ Diesen Maientag im Jahr 1945 machte er zu seiner persönlichen Stunde null, auf dass Gegenwart und Zukunft Waisen seien.

Die Schüler schweigen, die grünen Gardinen bauschen sich, und Gottfried Leich erzählt weiter. Jahrzehnte später schickte ihm eine Tante ein Foto in Schwarzweiß. Auf dessen Rückseite stand geschrieben: „Gottfried in Onkel Eberhards SA-Uniform.“ Gottfried Leich fragte seine Frau: „Bist du das auf dem Foto?“, denn er wollte nicht wahrhaben, dass dieser sechsjährige Junge, der da stramm im Garten stand, er selber war. „Wie geht denn das?“, fragt eine Schülerin. „Für die meisten in Deutschland ging das. Für viele geht das noch immer“, sagt Gottfried Leich.

An seiner Seite sitzt eine kleine ältere Frau in Wanderschuhen. Sie ist nicht deutsch, nicht jüdisch, aber Mitglied bei One by One. Leise spricht sie in deutscher Sprache, mit einem sanften Akzent, der die Sprache weicher werden lässt. Ihre Brille ist groß, die Zärtlichkeit in ihrer Stimme auch.

1949 kam Penny nach Deutschland. Sie war sechs Jahre alt. Ihr Vater arbeitete als amerikanischer Diplomat zunächst in Frankfurt, dann in München. Überall lagen die Trümmer. „Ich habe Deutschland sehr geliebt“, erzählt sie, „aber ich wusste vom Holocaust, weil meine Eltern mir davon erzählt haben.“

Mit ihnen hat sie damals das Konzentrationslager Dachau besichtigt. Leise spricht sie weiter: „Ich stand vor den Öfen und habe gedacht, dass auch ganz viele Kinder in diese Öfen gesteckt wurden.“ In ihrer Erinnerung sind diese Öfen weiß. Von Fotos weiß sie, dass sie ziegelrot waren. Doch der Raum war so weiß getüncht, dass auch ihre Erinnerung ganz weiß wurde.

Kurze Zeit nach dem Besuch in Dachau trank Penny Kaffee mit ihrer Freundin Ingrid und deren Eltern und sie fragte: „Warum habt ihr das gemacht mit den vielen Menschen und den Kindern?“, und wartete auf eine Antwort. Doch alle schwiegen und rührten die Sahne in ihren Tassen. Und auch Penny begann zu schweigen, weil sie ahnte, dass Fragen Freundschaft kostet.

Penny erzählt von der Angst, die über sie kam, als sie zum ersten Mal zusammen mit ihrem Mann die Grenze nach Deutschland passierte. Ihr Mann ist Jude. Viele der amerikanischen Gäste erzählen von dieser Angst – Angst, die sie befällt, wenn sie den Beamten am Flughafen ihren Pass zeigen müssen, Angst, die sie anspringt, wenn sie deutsche Schäferhunde bellen hören, Angst, die sie umklammert, wenn sie deutsche Züge die Schienen entlangdonnern sehen.

Im anderen Klassenzimmer fragt ein Schüler: „Wie sollen wir denn damit umgehen, dass wir Deutsche sind?“ Und Deborah lächelt, streicht ihrer Freundin Inge über den Arm, der neben ihrer Hand ruht, und sagt leise: „Ihr sollt euch gut fühlen können mit eurem Land. Ihr sollt Verantwortung fühlen, nicht Schuld.“

ZItat:

Aus der Selbstdarstellung von One by One:

Wir müssen uns daran erinnern, dass der Holocaust nicht die Zahl 6 Millionen repräsentiert. Er bedeutet: ein Mensch und noch ein Mensch...