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: Radiophone Spaziergänge mit Milena (Teil 5)

MEISTERSCHAFT IN ECHTZEIT

Das Schöne an der Bundesliga im Radio ist ja, dass sie in Echtzeit geschieht. Vor dem Fernseher dauert es keine Minute, bis aus einem 0:5 ein 0:8 geworden ist. In der Realität und am Radio hingegen hat das Hirn des fußballirren Waldspaziergängers ausreichend Zeit, den ganzen Datenschrott abzurufen, bevor es wieder einen neuen, historischen Zwischenstand aus Ulm gibt. (Behindert wurde diese Tätigkeit nur dadurch, dass sich die fußballbegeisterte Milena kurz vor ihrem zweiten Geburtstag erstmals Papas Kopfhörer aufsetzte und ultimativ die Verstöpselung mit dem mitgeführten Radio verlangte.)

Nach Zé Robertos Tor zum 0:6 begann die Assoziationsmaschine erstmals zu rattern. Die Bayern verloren so 1974/75 in Offenbach und eine Saison später in Frankfurt, oder? Aber bald stand es 0:7. Da war doch was mit Bayerns höchster Heimniederlage – gegen Schalke? Und Gladbach daheim gegen Bremen ebenfalls, oder?

Zé Robertos 0:8 verwies dann auf Joachim Ringelnatz. Dem Reimzwang geschuldet, schmiedete der einst über einen vom Fußballwahn Besessenen den paradoxen, aber heimniederlagengerechten Vers: „Er siegte immer, null zu acht.“ Mit Bernd Schneiders Tor zum 0:9 waren wir bei Tennis Borussias Rekordniederlage, 1976/77 bei den Münchner Bayern – und vor allem bei der höchsten Heimniederlage der Bundesligageschichte, der von Tasmania 1900 Berlin gegen den damals noch so genannten Meidericher SV (1965/66).

Mit dem Ulmer Ehrentreffer allerdings war das datenverstopfte Hirn dann überfordert. Ein 1:9? Auch noch zu Hause? Gab’s so was überhaupt schon mal? Erst der Blick in die unbezahlbare Bundesliga-Anthologie „Als die Ente Amok lief“ verriet: Ein 1:9 daheim hatte sich bisher nur die Mannschaft geleistet, die dieses Omen im Nomen trägt: Borussia Neunkirchen 1965/66 gegen 1860 München. Soviel zur Statistik. Was aber lernt uns das 1:9 für die Zukunft?

Brasilia Leverkusen wird internationaler deutscher Meister (sechs der zehn Tore in Ulm erzielten gebürtige Brasilianer). Ulm hingegen darf nächstes Jahr möglicherweise wieder um die echte deutsche Meisterschaft mitspielen. Die findet nämlich, da die Bundesliga zur Champions-League-Qualifikation verkommen ist, eine Etage tiefer statt, in der so genannten Zweiten Liga: Hier spielen 15 frühere Erstligisten – und die ganzen Spieler deutscher Zunge, die früher in der Bundesliga wacker um Punkte gekämpft hätten. Deshalb: Deutscher Meister wird nur der FC Köln!

OLIVER T. DOMZALSKI