Wenn die Demokratie tanzt

Ein halbes Jahrhundert Herrschaft der Kuomintang auf Taiwan ist zu Ende. Die Bevölkerung feiert den Wahlsieg des neuen Präsidenten

aus Taipeh GEORG BLUMEaus Peking KRISTIN KUPFER

Jahrhunderte alt ist der amerikanischen Traum, ein Wochenende jung ist der chinesische. Und so fängt er an: China-Böller krachen, der Himmel erleuchtet im Feuerwerk. Über der bunten Menge, die im Freudentaumel durch die Straßen der Hauptstadt schwankt, wehen die Fahnen des neu gewählten Präsidenten. Schon räumen seine Gegner, die das Land über ein halbes Jahrhundert mit eiserner Faust regierten, nicht nur ihre Niederlage ein, sondern versprechen dem zukünftigen Regenten Respekt und ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Der umjubelte Sieger aber bedankt sich, ergriffen und gerührt, beim Volk: „Wir haben Dunkelheit und Angst mit Liebe und Hoffnung besiegt und mit der Stimme des Volkes unseren Willen zur Demokratie bekräftigt.“

Wie sähe die Welt aus, käme dieser Bericht aus Peking? Doch wir schreiben im Jahr 2000 von einer kleinen Insel vor der südchinesischen Küste, die – kaum größer als Baden-Würtemberg – weniger als zwei Prozent der chinesischen Bevölkerung beheimatet.

Hier wurde an einem traumhaften Frühlingstag im März der erste gewaltfreie und demokratische Machtwechsel der abertausendjährigen chinesischen Geschichte gefeiert.

„Ein Sieg des taiwanesischen Volkes und der Demokratie“

In der Nacht zum Sonntag tanzte das Volk auf den Straßen, drei junge Friseure, die ihre Haare gelb, rot und grün gefärbt hatten, feierten „Karneval in Taipeh“, und während sich die alte Garde der Kuomintang-Nationalisten zum Entsetzen einer kleinen randalierenden Anhängerschaft als gute Verlierer präsentierten, verkündete Chen Shui-bian, der erfolgreiche Kandidat der erst vor dreizehn Jahren gegründeten oppositionellen taiwanesischen Fortschrittspartei DPP, „einen Sieg des taiwanesischen Volkes und der Demokratie“.

Chen hatte die Wahl mit 39,3 Prozent aller Stimmen gewonnen. Sein schärfster Rivale, der als Unabhängiger kandidierenden Kuomintang-Dissident James Soong, erreichte 36,83 Prozent. Mit 23,10 Prozent der Stimmen landete der offizielle KMT-Kandidat Lien Chan abgeschlagen auf dem dritten Platz.

Von der taiwanesischen Wahleuphorie wollen jedoch die meisten Chinesen auf dem Festland nichts wissen. Zwar reagierte die Pekinger Führung am Wochenende zurückhaltend: „Wir werden die Worte und Taten der neuen taiwanesischen Führer beobachten und aufmerksam verfolgen, in welche Richtung sie die Beziehungen zwischen beiden Küsten lenken werden“, hieß es in einem offiziellen Kommuniqué der Regierung. Doch schon am Samstag hatte das Politbüro der Partei in einer Sondersitzung zur Taiwan-Frage getagt.

Ein paar Studenten der Peking-Universität, die am Sonntag früh zum Tennisplatz trotten, halten den Wahlsieg Chens schlicht für „gefährlich“. Ihrer Meinung nach könne Chen einen militärischen Konflikt provozieren. Man solle ihnen ihnen das Recht einräumen, gegen Chen zu demonstrieren.

Die Gefahr eines Krieges erkennt auch ein Pekinger Professor, der im chinesischen Staatsfernsehen als erster zu Wort kommt. Nach einer Umfrage vom Sonntag auf der chinesischen Internet-Seite muzi.com erwarten zwei Drittel von 146 Teilnehmern eine „Verschlechterung“ der Beziehungen zwischen Taiwan und dem Festland. Sie alle teilen die Angst der regierenden Kommunisten, dass Taipeh unabhängig werden will. Für diesen Fall aber hat China sein militärisches Eingreifen angekündigt.

Die Angstpropaganda trieb die Wähler zu Chen

Unbegründet sind die Sorgen der Chinesen nicht. Mit Chen wird in Zukunft ein glühender taiwanesischer Nationalist die Insel regieren, dessen Partei in ihrem Programm die Unabhängigkeit der Insel von der Volksrepublik einfordert.

Bis zur letzten Minute vor der Wahl versuchte die Pekinger Regierung Chens Sieg mit wiederholten Kriegsdrohungen und einer dramatischen Brandrede ihres populären Premierministers Zhu Rongji verhindern. Mit einer Propaganda, die Chen in die Nähe Hitlers und Mussolinis rückte, kämpfte auch die seit 1949 auf Taiwan regierende Kuomintang (KMT) gegen die drohende Niederlage an. Doch gerade die Angstmache trieb die Wähler zu Chen.

„Wir fürchten uns nicht vor China“, sagt Maurice Yui, ein 28-jähriger Soziologiedozent aus Taipeh, der mit zehntausenden von Gleichgesinnten und seiner Freundin im Arm am Samstagabend über die von der Polizei freigeräumten Hochhaus-Boulevards der Hauptstadt zieht. „Heute ist unser Siegestag. Wir Taiwanesen sind jetzt Eigentümer unseres Landes.“

Das flotte Schwarz, das Yui vom Kopf bis an die Füße trägt, wirkt in der Nacht wie ein dunkler Kampfanzug. Yui würde für die Nation sein Blut vergießen, genauso wie Premier Zhu in Peking: „Ich werde für die Unabhängigkeit Taiwans kämpfen, und ich werde meine Studenten auch dann noch lehren, keine Angst zu haben, wenn China angreift“, sagt Yui.

Nach schrillem Wahlkampf folgen stillere Töne

In Yuis unbekümmert martialischer Sprache klingt das Echo des Wahlkampfs fort, dessen kriegerische Töne zwar ausschließlich von der Verliererseite kamen, der aber auch von den Siegern mit schriller populistischer Rhetorik geführt wurde. Kein Satz ging dem Wahlkämpfer Chen in den letzten Tagen über die Lippen, in dem nicht das „Erwachen des taiwanesischen Volkes“ gepriesen wurde oder andere national-taiwanesische Klänge mitschwangen, die für chinesische Sinne Verrat bedeuteten.

Allerdings führt Chen seinen nationalistisch tönenden Triumphzug am Tag seines Sieges auf stillere Bahnen zurück. Bereits kurz nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse betont er seinen „guten Willen“ gegenüber Peking und verspricht eine „positive Beziehung“ zum Festland.

Der neue Präsident wohnt in einem alten Soldaten- und Beamtenviertel der Hauptstadt im Erdgeschoss eines unauffälligen Apartmentblocks. Der Gang ins Wahlbüro der benachbarten Mintzu-Grundschule ist für Chen mit gewohnten Erschwernissen verbunden: Wie immer bei privaten Ausgängen schiebt er seine Frau, Wu Shu-jen, im Rollstuhl vor sich her. Wus Auto, in dem auch ihr Mann saß, wurde 1985 nach einer Wahlparty von einem LKW überrollt. Am Tag zuvor hatte Chen Morddrohungen erhalten. Viele vermuteten damals einen Anschlag auf die beiden.

Seither ist Wus unheilbare Lähmung Symbol für den gemeinsamen politischen Kampf des Paares. Sie war bereits Parlamentarierin, als ihr Mann 1986 acht Monate im Gefängnis verbrachte, zu denen ihn ein Gericht wegen Verleumdung eines Buchautors verurteilt hatte.

Inzwischen hat sich die alte Kuomintang-Diktatur in eine moderne Parteiendemokratie verwandelt. Heute ist das Paar mit der Insel versöhnt. Vor der Abgabe ihre Stimmzettel nehmen sich Mann und Frau Zeit für ein Gespräch mit dem benachbarten Fleischermeister, grüßen den Tofu-Bäcker unter dem indischen Feigenbaum und schütteln auf Aufforderung eines Wahlhelfers mit freundlichen Bemerkungen dem taz-Korrespondenten die Hände. Das künftige Präsidentenpaar reiht sich in die lange Warteschlange vor dem Wahlbüro ein, bis auch Chen und Wu den niedrigen Schultisch erreichen, an dem die Grundschullehrerin Chi Lu-chen ihr wachsames Regiment führt.

Flink greifen Chis zarte, rotbraunlackierte Finger nach dem Personalausweis Chens. Mit dem nächsten Handgriff holt sich die Lehrerin seinen wertvollen, in einer kleinen Marmorschachtel aufbewahrten Privatstempel. Damit vermerkt sie seine Wahlbeteiligung, die nicht wie im Westen mit eigenhändiger Unterschrift dokumentiert wird. Kaum einen Blick gönnt die energische 44-jährige Dame ihrem prominenten Wähler, so beschäftigt ist sie mit der demokratischen Praxis. Gerade musse Chi einen alten Soldaten zurechtweisen, der gegen die Journalisten im Wahlbüro protestierte und bereits schimpfte, die Wahl sei gefälscht. „Ich verstehe den alten Mann“, sagt Chi gutmütig. „Er liebt nur sein Land, und heute ist ein wichtiger Tag in der taiwanesischen Geschichte.“

Die Sorge, dass es mit Peking Schwierigkeiten gibt

Einen Tag später sitzt die Lehrerin im Familienkreis und bedenkt die Wahlergebnisse. Sie selbst hat für James Soong gestimmt, doch jetzt will sie hoffen, dass die Stimme des Volkes richtig entschieden hat.

„Hoffentlich streitet Chen nicht mit China“, überlegt Chi. „Ich sorge mich nur, weil er so ehrlich ist, dass es mit Peking eigentlich nur Schwierigkeiten geben kann.“

So gehört sie zu denen, die auch in der ersten großen Feierstunde der taiwanesischen Demokratie nicht zu träumen beginnen. Chi scheint zu ahnen, dass ihre Landsleute eines Tages großer Kraft und Geduld bedürften, um den Herrschern des großen chinesischen Reiches ihre Unabhängigkeit so zu demonstrieren, wie sie es bei dieser Wahl taten. Immerhin ist ihre erfolgreiche demokratisch-kapitalistische Mischung kein Geheimrezept, sondern ein Beispiel, das seit diesem Wochende wohl auch dem letzten Chinesen bekannt ist.