Die neue Durchlässigkeit

„Auf rustikalen Stühlen kann man es sich hier unter den Werken bildender Künstler und Fotografen gemütlich machen“: Das Kulturhaus Knorre zeigt viel kiezige Kleinkunst, bietet aber auch den Neo-Fluxus-Leuten von „Radio Hochsee“ eine Heimstatt

von HELMUT HÖGE

Knorrpromenade ist eine kleine Straße in Friedrichshain – so klein, dass man sie nicht gleich auf dem Falk-Plan findet. Georg Knorr war der Erfinder der Einkammerschnellbremse. Um das Promenadische zu verstehen, muss man wissen, dass die Straße einst vom Proletariat umgeben war und eine kleine bürgerliche Insel bildete. Deswegen wurde abends die Straße abgeschlossen wie ein Getto. Die Tore dafür stehen nach wie vor. Promenade nannte man diese Gasse, weil die Kindermädchen sich mit ihren bürgerlichen Balgen nicht „draußen“ unters gemeine Volk mischen durften und deswegen immer nur die kleine Straße auf und ab promenierten.

In der Mitte befindet sich heute das Kunst- und Kulturhaus „Knorre“, auch ein gediegenes Haus, das den Charme einer ABM-Kiezeinrichtung besitzt. Ähnliche multifunktionale Kulturzentren gibt es auch im Wedding, in Neukölln, Tiergarten, Marzahn, Oberschöneweide und anderswo.

Ihrem „Form follows function“-Flair mit viel Schmiedeeisen, Rohholz und teilweise integrierten Industrie-Restaggregaten merkt man das große Engagement der Betreiber, das am Anfang stand, immer noch an. Sie sind also meist „von unten“ entstanden, d. h., dass man einst wegen der Personal- und Sachmittelbewilligung erst einmal in „Vorleistung“ ging. Bis heute haben deswegen selbst die Teilzeit-Thekenbedienungen noch den Charme von evangelischen Heimleitern. Und mit dem Bezirksstadtrat für Kultur, der diese Einrichtung gerne als seine „Perle“ bezeichnet, sind sie alle per du. „Im historischen Ballsaal, wo Gerüchten zufolge schon der Kaiser getanzt haben soll, finden in konzertanter, intimer Atmosphäre Konzerte, Theater- und Kabarettaufführungen, Lesungen und Filmvorführungen statt“, schreiben die Knorre-Betreiber in ihrem Flyer, Flugi oder Faltblatt. „Auf rustikalen Stühlen kann man es sich hier unter den Werken bildender Künstler und Fotografen gemütlich machen . . . Kleinkunst wird in der Knorre ganz groß geschrieben.“

Wegen des Zwangs, ständig Veranstaltungen anbieten zu müssen, findet viel Quatsch in diesen Kiez-Kultureinrichtungen statt: Für jeden etwas, nennt sich das. In der Knorre war jedoch auch das „Mittwochsfazit“ heimisch, das vor kurzem von Falko Hennigs „Radio Hochsee“ abgelöst wurde.

Hennig wiederum mischt bei der „Reformbühne Heim und Welt“ mit, die unlängst aus dem Schokoladen Ackerstraße in das Kaffee Burger am Rosa-Luxemburg-Platz umzog. Dort wurden dann die großen bürgerlichen Feuilletons auf diese „Kleinkunst“ aufmerksam, so dass Henryk M. Broder das „Thema“ im Spiegel gleich zu einem Top-trend hochjubelte: Techno-Clubs sind out, Kneipenlesungen sind in, schrieb er. Das ist natürlich grober Unfug. Wahr ist jedoch, dass es auch in den Clubs immer mehr Kleinkunst gibt: im WMF tagt die Micro-Lounge, bei Maria am Ostbahnhof wird vorgelesen. Aber genau genommen sind ja bereits all die jungen DJs mit ihrem liebevoll zusammengestöpselten High-Tech-Equipment nicht anderes als Kleinkünstler. Und das „Mittwochsfazit“ lockte locker 800 Leute an.

Ohnehin haben beide Künste gemeinsame Wurzeln: den Achtzigerjahre-Fluxus von Emmett Williams, Wolfgang Müller, Thomas Kapielski und Butzmann, Westbam und seinen Vater William, um nur einige zu nennen. Und so, wie die Love Parade vor elf Jahren aus dem Keller des Fischbüros in der Köpenicker Straße ans Tageslicht kroch, bekam etwa zur gleichen Zeit auch die Performance-Kunst noch einmal einen enormen Drive dadurch, dass Dr. Seltsam und Wiglaf Droste wegen der Entlassung zweier taz-Redakteurinnen der Zeitung den Rücken kehrten, um ihre Texte fortan als „Frühschoppen“ und „Benno-Ohnesorg-Theater“ auf der Bühne vorzutragen.

Nach einigen Jahren organisierten die Prenzlauer-Berg-Dichter sowie die Glücklichen Arbeitslosen Ähnliches – im Torpedokäfer und im Siemeck. Bert Papenfuß und Wladimir Kaminer haben beide Unterhaltungsströme neuerdings im Kaffee Burger zusammengeführt. Wobei Papenfuß so weit geht, dort nun sogar ein täglich wechselndes Programm zu offerieren, dessen insgesamt experimentelle Ausrichtung kaum noch etwas mit den eher biederen Veranstaltungen der ABM-Kiezkulturhäuser gemeinsam hat, dafür jedoch wieder – wenn auch eher bewusstlos – an die Keller-Ereignisse der Fluxus-Bewegung anknüpft.

Dieser Neofluxus als Social Beat oder umgekehrt findet gleichzeitig immer häufiger Eingang in die Multimedia-Spektakel der Volksbühne, die inzwischen von fast allen deutschen Theatern kopiert werden – bis hin zur Gestaltung der Streichholzschachteln als Werbeträger. Von Ausnahmen abgesehen (Sarah Schmidt, Annett Gröschner) sind all dies leider Männerveranstaltungen. Die im Kellnern geschulten Kulturwissenschaftlerinnen wie Judith Hermann, Zoé Jenny und Maike Wetzel drängt es eher an die Hochkulturstätten, in die gepflegten Literaturhäuser und Profit-Center-Salons von Feministen. Hier wie dort tauchen nun regelmäßig die neuen Literaturagenten auf, um sich akquisitorisch die Rosinen aus dem Programm zu picken.

Diese neue Durchlässigkeit hat durchaus etwas von einem Trend. Der ist zum einen der zunehmenden Berliner Kneipenkonkurrenz geschuldet – man muss sich schließlich was einfallen lassen – und zum anderen der postindustriellen Deregulierung. Dem kleinen Mann auf der Straße bleibt dagegen nur, sich kopfüber in die Kunst zu stürzen.

Der Neuköllner Avantgardist Thomas Kapielski hat es derweil schon bis zur Performance-Professur im niedersächsischen Braunschweig gebracht. Aus seiner Kaderschmiede dort wird sich vielleicht die nächste Coram-Publicum-Konjunktur rekrutieren – „Paradoxe Interventionen“ dann genannt.